Karl-Heinz Schreiber ist der Autor des 184 Seiten umfassenden Bandes in "lyryscher Prossa", der im Wiesenburg Verlag erschienen ist.
Vorweg sei bemerkt, dass der Autor es sich vorgenommen hat, "sich von allzu rigorosen Sprachregelungen frei zu halten" und mit den Lesern "das assoziative Lesen zu üben".
Ersteres ist ihm zweifellos gelungen. Unbeachtet blieben immerhin Groß- und Kleinschreibung sowie die Interpunktion. Die einzelnen Zeilen seiner 30 (!) Themen-Sequenzen sind zentriert - es fehlt das Schriftbild des für den Leser gewohnten Zeilenumbruchs. Schreiber nimmt ohne jede Scham für sich in Anspruch, dass sich der Leser in sein Denken und seine Interpretationen der mehr oder weniger bedeutsamen Situationen der Alltäglichkeit in der Form einlässt, notfalls einen ganzen Abschnitt mehrmals in sich aufzunehmen, weil er die Aussage einfach nicht verstanden hat. Wer Schreiber kennt, der ahnt auch, dass dieser hochbegabte "Philosophenpoet" nicht eher Ruhe gibt, bis er das Alphabet und die damit in Zusammenhang stehenden Wortgedanken auf ein Aneinanderreihen von "Ypsilons" reduziert hat. Wer nicht ganz sattelfest im Umgang mit Fremdwörtern ist, darf getrost zum Duden greifen ohne sich schämen zu müssen, denn wo Poesie mit der philosophischen Disziplin um Erkenntnisse streiten, wird um jede Beschreibung des Gedankens gerungen. So wie die Lyrik einerseits die subjektive Erzählweise charakterisiert, konfrontiert der Autor den Leser durch Dialoge, indem der fiktive Kombattand in der "ER-Form" die Gegenargumente liefert, quasi als These und Antithese.
Wer nun glaubt, er könne sich beim Studium des Buches in der Erwartung süffisanten Lesegenusses in die Behaglichkeit entziehen, wird diesen Versuch spätestens nach der dritten Seite aufgeben müssen, etwa wie "wenn der Besucher kommt und gleich wieder geht".
In diesem Abschnitt wird unter anderem "die Ohnmacht der leidenschaftlichen Teilnahmslosigkeit" hinterfragt, wenn "Konventionen die gesellschaftliche Verbindlichkeit zu dominieren scheinen". Der Autor fragt weiter, "was Sinn ausrichte, der durch Hyperaktivität und mangelnde Übereinstimmung der Verschiedenheit (Individuation, Anmerkung des Verfassers) ersetzt wird?"
Wenn der Autor über "Aktualität" sinniert, ist zu lesen, dass "wir nie richtig aktuell sind - alles ist nur wie eine unsägliche Lähmung". Er berührt damit die Frage nach "der katalogisierten Person" und nach den Bewertungskriterien innerhalb des Gesellschaftssystems. Was erwartet die Funktionsgesellschaft von Schreiber ? Für ihn sind wenigstens die Gerüche des Menschen authentisch und ehrlich - aber aktuell? Vor "Tränen Im Foyer" wird gewarnt, weil "der Zugang zur Bühne meist verweigert ist". Hier scheint sich der Poet zu verabschieden, zweifelt einzig an seiner Reproduktion.
Vor drastischen Bemerkungen wird nicht zurückgezuckt: Wer Grobheiten austeilt, der muss nicht unbedingt Ehrfurcht erwarten ! Wer nun wirklich "Das größte Arschloch" dieser Welt ist, wird dem Leser nicht vermittelt - wohl aber, dass sich viele um diesen Posten bewerben und sich für qualifiziert halten. Die Schwierigkeiten "des Wagnisses einer Kontaktaufnahme zu anderen Menschen" scheinen für den Autor schier unüberwindlich, weil die Frage, wer von beiden das Recht hat, sich als das größere Arschloch zu bezeichnen, letztlich den Passanten in der Fußgängerzone zur Entscheidung überlassen bleibt. In seiner Geschichte setzt der Autor geschickt die Metapher der "freien Stühle im Cafe`" ein , die für Kompetenz stehen.
Schreibers zuweilen satirische Erzählweise, die mit Selbstzweifeln nicht spart und andererseits wegen der vor Selbstbewusstsein strotzenden Ehrlichkeit, die er gegen andere aber vor allem gegen sich selbst richtet, schockiert, mag mitunter befremdend auf den Leser wirken. Davon kriegt der Leser einen kleinen Vorgeschmack, wenn er sich bis zu der Sequenz "Das zaghaft Unheimliche" vorgearbeitet hat: Zunächst wird die "Glaubwürdigkeit des Erzählers unter dem Aspekt der hörgewohnten Darstellung, Spannung zu erzeugen und den Leser so in seinen Bann zu ziehen", in Zweifel gezogen. Schreiber stellt dem "seine eigene Machart entgegen" und bezweifelt erst einmal, dass ihm "jemand bis zum Ende zuhört" und glaubt, dass "es Leser gibt, die interessanter sind als die Hauptfigur der Bücher" (die sie lesen, Anmerkung des Verfassers). Nach Auffassung des Autors "sollen Erzähler und Leser nicht zu einem Traumpaar werden". Somit sei die These, "Phantasie als Bestandteil der Poesie als zumutbarer Leseinhalt an die Stelle der nachvollziehbaren Erlebniswelt zu setzen" zur Proklamation, Literatur als künstlerische Idee verstanden zu wissen.
Satire wird deutlicher ab Seite 64, wenn über "Die schönste Todesart" philosophiert wird. Da lebt sich die Eigenbestimmung des Mannes in der "Aberration der Lusterlösung als Konsequenz für fehlende Eigenbestimmung aus". Somit habe sich der Mann in einen "klinischen Exitus" begeben. Das Ganze wird mit handfesten Beispielen der professionellen Möglichkeiten eines Freudenhausbetriebes beschrieben.
Auf welche Möglichkeiten der findige Individualist kommen kann, sich mit dem ewigen Feind zu arrangieren, erfährt man , wenn ein "Postbote mit einem Hund einen Postboten zeugt" und auch die Schwierigkeiten, die sich in der konventionell orientierten Gesellschaftsmehrheit daraus ergeben, zum Beispiel ob das gemeinsam gezeugte Wesen nun katholisch oder evangelisch getauft wird. Darauf muss einer erst einmal kommen...
Von der Satire her hat mir das "Lob an den Müll" am besten gefallen. (Das mag aber daran liegen, dass der Verfasser dieser Zeilen selbst Satiriker ist und sich seine Gattung Rosinen aus dem Dargebotenen herauspickt.)
Zunächst fordert Schreiber die Menschen auf, "sich zunächst einmal selbst zu entsorgen, weil sie das Überflüssigste darstellen, was sich im Kosmos ausschließlich mit sich selbst beschäftigt und ansonsten niemandem von Nutzen ist". Bedeutender sei schon der Müll selbst, "den wir produzieren, weil er unter anderem signifikantes Statussymbol des Einzelnen darstellt". Im Folgenden steigert sich Schreiber zu einem "Fortissimo" gedanklicher Verknüpfungen, wenn er die geistige Verwertbarkeit dieses menschlichen Nachlasses eruiert.
Nach diesem highlight innerhalb meiner Lese- und Verständnisgewohnheit schlägt der Philosophenpoet sofort wieder in dem von ihm selbst entworfenen Autor-Leser-Verständnis zu und konfrontiert mit einer Art Selbstexploration "Gefährlich" mit unseren "psychosomatisch verseuchten Lebenswelten" und fragt - ja wen eigentlich ? - wie sich nur aus einer Summe von Leerformeln Argumentationsketten basteln lassen? Will sich der Poet in die Anpassung verlieren, die aus Beurteilungsmechanismen zusammengewürfelt ist ?
Weitere Stationen werden auf ihre Anwendbarkeit hin überprüft wie in den Analysen von "Gut geht" oder "Hindernisse". Wenn "Idee" zum Tragen kommt, lästigt sich der Autor durch den Tag und schwierigt seine Ansprüche. Dabei "züchtet jede Ideologie eine Aura und wirkt wie ein Bad im Drachenblut". Auch die "Verfügungsmobilität" wird angerufen, "sich durch Ideenblitze erschrecken zu lassen, wo doch für sich alleine genommen das dumpfe Hinbrüten über leeren Bilderrahmen die Farben nicht flügge werden lässt..."
Welch ausdrucksstarke Poesie!
Als Letztes mag noch die Überlegung von "dem (der) Wandler" angesprochen werden, denn die philosophischen Anstrengungen Schreibers sind derart komplex, dass die Auswertung aller Themen schon einem Epilog gleichkäme und... der künftige Besitzer des Buches mag konsequenterweise eigene Gedanken ausbrüten... Der Wandler hat sich "auf der Suche nach Identität" die Frage zu beantworten, aufgrund welcher Risiken diese auszuleben wäre? Und "welche Wirksamkeit würde erreicht, sollte der Versuch unternommen werden, die Erdachse zu verschieben?" Weiter fragt der Autor, "wie denn Verantwortlichkeiten der Leute ohne (regelnde, Anmerkung des Verfassers) Ampeln ausgelebt würden" ohne als anarchieverdächtig eingestuft zu werden, und "weshalb", so fragt er weiter, "müssen sich Menschen in diesem Sinne verantworten, Tiere aber nicht ?" ( Also, da kann ich nicht ganz folgen, denn im Tierreich werden oft schon kleinste Versehen mit dem Ableben geahndet - man denke nur an die Biene, die sich im Einflugloch versieht - oder an den alten Löwen, der seiner Pflicht aus Altersgründen nicht mehr nachkommen kann. Sollten derartige Konsequenzen aus dem Tierreich auf den Menschen übertragen werden, wäre die halbe Menschheit hin. Ich stelle mir gerade vor, zwei Menschen rasten mit Tempo 50 auf einander zu und stießen mit den Köpfen zusammen, wie es Nashörner zuweilen treiben, wenn es um ein Weibchen geht. Das wäre doch mal eine natürliche Auslese. Nix ist mit AOK , Rettungswagen und Hubschrauber, nix ist mit Amtsgericht, Berufung und Revision - keine mildernden Umstände ! Allerdings auch kein Bundesverdienstkreuz am Bande. Anmerkung des Verfassers).
Abschließend ein Fazit: 184 Seiten Arbeit (nicht nur für den Autor), Anregung, Konfrontation, Existenzphilosophie auf "Schreiberart". Ein begabter Querdenker outet sich, macht sich angreifbar, setzt den Finger auf offene Wunden - auch auf die eigenen. Schreiber weicht dem "Besucher" nicht aus, sucht den Dialog - wenn denn die Konventionen weitestgehend ausgeklammert sind.
Der "Vernetzer" hat zugeschlagen. Schwer zu lesen, für ganz viele vermutlich auch schwer zu verstehen. Aber das scheint auch so gewollt...
Hartmut T. Reliwette
Karl-Heinz Schreiber: "Alyce oder das zaghaft Unheimliche"
Wiesenburg-Verlag, 97412 Schweinfurt
ISBN 3-932497-34-1
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