Mariella Mehr ist eine deutschsprachige Autorin, aufgewachsen in der Schweiz,
lebt jetzt in Lucignano/Italien. Für ihr Engagement für unterdrückte Minderheiten erhielt sie die Ehrendoktorwürde der Universität Basel. Sie schreibt u.a. lyrische Gedichte und Romane, ist mit dem Preis der Schweizerischen Schillerstiftung ausgezeichnet.
Dass die Autorin "Jenische" ist, ein Stamm der Roma, soll nicht verschwiegen, aber auch nicht besonders hervorgehoben werden nach dem Motto: An den armen "Zigeunern" ist etwas gutzumachen. Vielmehr steht die Beachtung schriftstellerischer Qualität, Authentizität und die Historie im Vordergrund dieser Rezension. Ihre Romantrilogie ist eine Vermischung eigener autobiographischer Erlebnisse und derer einer anderen Person (en), vielleicht stellenweise "überspitzt" dargestellt - in jedem Fall aber authentisch und auf historischem Hintergrund aufgebaut. Ich komme am Schluss noch einmal darauf zurück:
"Daskind" wurde zunächst in das Verlagsprogramm des Schweizerischen Verlages Nagel & Kimche aufgenommen, später in Linzenzausgabe als Taschenbuch vom Ullstein-Verlag, Berlin herausgegeben (die Reihe "Die Frau in der Literatur") und ist zwischenzeitlich restlos vergriffen. Vorliegendes "Gebraucht-Exemplar" konnte über eine "Internetbücherei" beschafft werden.
Vorne hinein geschrieben: Eine merkwürdige Widmung: "Liebe...., viel Spaß bei der Lektüre....Unterschrift."
Mariella Mehr: Daskind. (Teil I der Roman-Triologie)
Viel Spaß kann der Leser beim Studium des Romans wahrlich nicht entwickeln - es sei denn, er "pflegt" seine masoschistischen Neigungen durch den "Genuss" vorliegender Literatur. Dazu sind Hintergründe und Aufwachsen eines namenlosen Kindes in einem schweizer Dorf, das vom katholischen Glaubenseifer geprägt ein seltsames Eigenleben entwickelt hat, viel zu makaber.
"Hat keinen Namen Daskind, wird Daskind genannt. Oder Kleinerbub, obwohl es ein Mädchen ist. Wenn den Frauen im Dorf danach zumute ist, wird es Kleinerbub genannt oder Kleinerfratz, zärtlich. Auch Frecherfratz, wenn Daskind Bedürfnisse hat, oder Saumädchen, Hürchen, Dreckiger Balg...
So beginnt die Erzählung vom kleinen "Zigeunerkind", das bei einem Ziehvater
aufwächst, der es aus einem von Nonnen geführten Heim zu sich geholt hat, in das Dorf mit den "ehrbaren" Bürgern. In sein Haus, dass er mit seiner biederen Frau teilt, die keine Beziehung zu dem fremden Kind aufzubauen imstande ist.
Daskind spricht nicht, bleibt in seiner eigenen Phantasiewelt für andere verschlossen. Im Hause wohnt noch ein anderer, der "Grüne" mit dem immergrünen Gesicht - im Grünenzimmer... er ist der "Pensionist". Aber in der Kammer ist noch ein anderer: Der "silberne" Christus am silbernen Kreuz, der alle Schuld auf sich nähme, würde man sie nicht dem Kinde zusprechen, das sich schuldig macht, mit seinem Schweigen, seinem Anderssein und den Vergewaltigungen, die ihm widerfahren. Wenn der Pflegevater es straft, nimmt er den Leibriemen und schlägt auf das nackte Gesäß des Kindes, welches von Trauertränen des Züchtigenden benetzt wird. Aus Mitleid oder aus Scham. Der Leser wird im Laufe der Erzählung geschockt. Welch mysteriöse Verbindung besteht zwischen dem Ziehvater und der Waldfrau, die sich außerhalb der Dorfgemeinschaft in eine Waldkate zurückgezogen hat? Und wie passt Daskind in diese Verbindung
geschwisterlicher Natur? Wenn es Daskind zu bunt treibt, sieht sich die Dorfgemeinschaft veranlasst, es des sonntags in die Kirche zu bringen, wo ihm mit Hilfe des Dorfpfarrers der Teufel ausgetrieben werden soll.
An die Stelle der Sprachlosigkeit tritt die Schleuder , welche Daskind vortrefflich anzuwenden weiß oder andere Aktionen, von denen die Dorfbewohner nur die Betroffenen kennen, nicht aber die ausführende Person. Im satten Aberglauben der Dörfler wird vieles dem Teufel zugeschrieben, der mal von jenem oder einem anderen Besitz zu nehmen pflegt. Und da gibt es viele Rezepte, die ihn vertreiben sollen, "ur-dörfliche Rezepte", um den Pferdefüßigen auf Abstand zu halten.
Doch in Wahrheit ist in den Dorfbewohnern auch anderes zu finden, Prüderie der eigenen Frau, die aufgrund strenger Kirchenlehren nur zu Vermehrungszwecken die Schenkel zu öffnen hat, sexuelle Unterdrückung eben und viel Hinterfotziges, was heimlich ausgelebt wird.
Der Autorin gelingt es, die Erzählweise der Erwachsenen quasi aus der Erinnerung mit der subjektiven Betrachtungsweise des Kindes aus der Froschperspektive zu verbinden, ohne dass es zu Einschnitten des Handlungsablaufes kommt. Es fügt sich alles nahtlos an einander. Zuweilen wird die Schilderung einzelner Szenen geradezu brutal, von erschreckender Realitätsnähe ohne allerdings ggfls. voyeuristische Erwartungen beim Leser zu animieren. Der sensible Leser mag geneigt sein, an diesen Stellen abzubrechen und sich erst mal einen Cognac oder Vergleichbares einzuflößen.
Zwei mysteriöse Todesfälle beschäftigen die Dorfbewohner, das heißt, den letzteren der beiden wird ausschließlich der Leser zu diskutieren haben - falls er der Schilderung der Autorin aufmerksam gefolgt ist und - sofern er noch ein Exemplar des Buches ergattern konnte.
Und der historische Hintergrund? Er wird im Nachwort von Katharina Döbler kompetent und detailliert beschrieben. Darin geht es unter anderem um die Zwangsintegration der Roma in die schweizer Gesellschaft. Viele Familien wurden auseinander gerissen, neue Sippenbildung verhindert, in dem man Kinder in Erziehungsheime steckte, die vorwiegend von Nonnen geleitet wurden. Frauen wurden sterilisiert. Die Autorin hat vieles davon selbst durchlebt, und so sagt sie zu Recht: Dieses Buch (und die anderen der Trilogie) mussten geschrieben werden. Daskind - oder seine Stellvertreterin - hat zu seiner/ihrer Sprache gefunden, und die ist nicht "von Pappe"...
Mariella Mehr: Daskind, Taschenbuch
- zuletzt erschienen im Ullstein-Verlag, Berlin,
lizensierte Ausgabe 97, 238 Seiten, ISBN 3-548-30414-1
- Auflage vergriffen
Mariella Mehr: Brandzauber (Teil II der Roman-Trilogie)
Der Roman beschreibt das Leben von Anna, die in der bademedizinischen Abteilung eines Sanatoriums arbeitet, zu dem auch ein Hotel gehört... Dieser Mischkategorie begegnet man in verschiedenen Kurorten. In ihrer Freizeit beschäftigt sich die Protagonistin mit fleischfressenden Pflanzen, die sie in einem überlassenen Teil des Treibhauses züchtet, welches zum Hotelbetrieb gehört.. Sie hat ein reges Interesse daran Buch zu führen über die Länge des Todeskampfes der Insekten, die auch schon mal als Fütterungsopfer Verwendung finden. Die Autorin beschreibt minutiös die verschiedenen Arten
und Fangmethoden dieser mysteriösen Pflanzengattung, die durchaus auch ohne
fleischliche Zunahrung überleben kann.
Alsbald nach der Einführung ist zu lesen:
"Ich bin Anna. Anna Priska Kreuz.
Der Tod".
Nun könnte der Leser dem Irrgauben verfallen, er habe die Einführung in einen Krimi-Thriller gelesen: Hier spricht nicht Edgar Wallace, sondern die Autorin, die "Daskind" verfasst hat - Mariella Mehr oder eben Anna Priska Kreuz, was nicht das selbe sein muss.
Eine "normale Liebesbeziehung" zu einem männlichen Pendant pflegt Anna nicht. Zuweilen "zerrt" sie den Gärtner in ihr Treibhaus, "nimmt ihn sich vor", "befindet" sich mit ihm "im Krieg". "Ausziehen darf er sich nicht". Der Geschlechtsakt, bei dem er sich nicht bewegen darf, gleicht einem "Verdauungsakt der Karniforen"; sein Glied nennt sie "Bub" - "Glück will nicht aufkommen bei ihr", "das Glück hält sich im Niemandsland verborgen".
In ihren unsteten Erinnerungen taucht Franziska auf, eine Mitbewohnerin eines Mädchenpensionates, in das Anna gezwungen wurde - damals. Franziska, die aus "ihrer Geschichte Wörter, Sinnketten an Anna herantrug" - sie mit ihrer Leidensgeschichte konfrontierte, an sie - die selber Opfer wurde. Stockschläge aus der Hand einer Ordensschwester? So hat Anna es in ihrer Erinnerung - und noch mehr. Franziskas Leben: Eine Aneinanderreihung von Qualen und Erniedrigungen, auch im Angesicht des Kreuzes, das keine Linderung vermittelt.
Ihre Haut ist fast vollständig mit Schorf bedeckt. (Wie heißt es? Die Haut ist Ausdruck der Seele. Die Ärzte benennen die Hauterkrankung lateinisch mit Neurodermithis, Anmerkung des Unterzeichners).
Eine Patientin betritt die Szene, an den Rollstuhl gefesselt, körperlich
zerschunden, die Folgen eines Unfalls? Sie erinnert Anna an Franziska, auf unerklärliche Weise. Anna taucht wieder ab in die gemeinsame Geschichte, damals im Pensionat. Der Psychologe Lodemann ist da, der nicht in die Psyche der Mädel dringen kann, weil sie nicht reden wollen. Dann die Erinnerung an ein gemeinsames Spiel, das sie "kreuzigen" nennen, ihr Versteck, ihre verbotene Mädchenliebe, wenn Franziska auf dem selbstgebastelten Kreuz liegt. Franziska scheint ihrer Büßerrolle gerecht zu werden. Die Erinnerung geht noch weiter zurück, an einen Wohnwagen, in welchem die Mutter sich betrinkt. Eines Tages legt die junge Anna Feuer. Der Vater gilt als Brandstifter - nachdem er sich mit dem Gewehr erschossen hat und als Zeuge nichts mehr taugt. Die Mutter wird gerettet, büßt ein Augenlicht ein infolge des Brandes.
Aus einzelnen Zerrbildern setzt sich ganz allmählich ein Puzzle zusammen.
Eine Ostjüdin hat der Psychologe die Franziska genannt, die mit dem neuen Namen nichts anzufangen weiß. Offensichtlich hat der Psychologe eigene Probleme...
Die Neue gehört zu den Patientinnen, um die sich Anna zu kümmern hat. Immer wieder erinnert diese sie an Franziska. Einmal zerquetscht sie einen Vogelkadaver vor den Augen einer anderen Patientin: Gertrud, die von einer einsetzenden Ohnmacht gerettet nicht mehr mitbekommt, wie der tote Vogel im Abfalleimer landet. Danach geht Anna übergangslos mit ihren Verrichtungen voran, keiner Schuld bewusst, weil sie dem Vogel nichts anderes antut als was man den Menschen antat, "die ermordet, zu Hunderten zwischen Tierkadavern und Unrat verrotteten". Dieser Gertrud scheint sie sich anzuvertrauen wollen wohl wissend, sie mit ihrer Geschichte zu überfordern. Gertrud indes argwöhnt, dass Annas merkwürdiges Verhalten der Zugehörigkeit zu einer Sekte zuzuordnen sei.
Auch den Tod ihrer Leidensgenossin, Franziska, hatte ein anderer verantworten müssen, der mehr oder weniger zufällig in der Nähe des Geschehens anzutreffen war; der Anstaltspsychologe, der ihrem Geheimnis nachstellte, das er in ihr vermutete und welches für ihn in ihrer Psyche verborgen schien. Hier war sie oder an anderer Stelle, "die Retterin, die an Franziskas Körper den hingemordeten Gott rächte". Schuld und Lust, Schmerz und Vergnügen wurden eins.
Die christliche Lehre vom Heil der Welt durch das Kreuzigungsphänomen zu Golgata, verkündet durch den Katholizismus, hat die junge Anna nicht erreicht,
bestenfalls ein Erlösungssyndrom bei ihr ausgelöst: Es heißt töten.
Aus den Einblendungen offenbart sich dem Leser ein erschreckendes, zusammenhängendes Lebensbild eines heranwachsenden Mädchens, das aufgrund seiner Lebensbedingungen, unter denen sie aufwächst, das Töten als Stellvertreterfunktion für sich und eine Notwendigkeit entdeckt, geschundene Kreatur vom Leid zu erlösen; ein Zustand, der auch die inzwischen im fortschreitenden Alter befindliche Anna immer wieder einholt.
Erschreckend ist diese Erzählung, die mehr eine Rechtfertigung Annas beschreibt für die Gewalt, die sie anderen antut.
Annas Entlassung aus dem Pflegedienst steht bevor. Ehe sie weggeht, sucht sie noch einmal das Gewächshaus auf...
Mariella Mehr: Brandzauber
Verlag Nagel & Kimche, Zürich
gebunden mit Schutzumschlag, 189 Seiten
Umschlaggestaltung: Layout Liaison Corinne Oetiker & Ronny Stocker
unter Verwendung des Gemäldes "Zwei Mädchen", ISBN 3-312-00237-0
Marielle Mehr: Angeklagt (Teil III der Roman-Trilogie)
Der dritte Band bringt eine neue Person ins Spiel: Kari Selb...
Und einleitend ist ein Essay von Michel Foucault vorangestellt:
"Weibliches Töten ist ein Schritt
aus der weiblichen Sprachlosigkeit.
Es heißt nichts anderes als:
Ich spreche. Jetzt spreche ich."
Obwohl die Handlung sich auf eine Untersuchung der Patientin beschränkt, der Ort auf ein Untersuchungszimmer mit zwei Stühlen und einem Tisch- und einer Alarmklingel an einer Schnur, wird ein Teil der Handlung abgekoppelt- zwischen geschoben und aus der erinnernden Erzählung der Patientin lebendig.
Resumeè einer Mörderin und Brandstifterin:
"Ich bin im Zustand der Gnade. Ich töte. Ich bin. Auf diese kurze Formel gebracht, betrachte ich mein Leben als gelungen. Als vollendetes Kunstwerk, dem keine Farbschattierung fehlt und das an allen denkbaren Formen gewachsen ist. Sogar die Farben der Liebe sind darin enthalten, ob Sie es glauben oder nicht. Die Liebe spricht man meinesgleichen bekanntlich ab. Zu Unrecht, zu Recht, das hängt davon ab, wie Sie ein Leben betrachten..."
Aber dann kommt die Sprache auf "Malik", eine Erscheinung, "die verschwand als ich den größten Teil meines Lebens hinter sich gebracht hatte - und die wiederkommen wird"...
Kari Selb befindet sich in Untersuchungshaft. Sie spricht aus der Erinnerung heraus in der ICH-Form, beschreibt ihre Jugendzeit soweit sie Erinnerung hat.
Die Anamnese ähnelt der, die dem Leser von "Daskind" schon bekannt ist, eine beginnende Dissozialisierung etwa ab dem 12. Lebensjahr. Vater ein Trinker, Fremdgeher, die Mutter eine Frustsäuferin. Wenn die Tante zu Besuch kommt (Schwester mütterlicherseits) nächtigt sie im Mansardenzimmer. Die Mutter hält sich dann auch oben auf, teilweise auch der Vater (!) Ringsumher dörfliches Leben (ein Dorf, das eigentlich kein Dorf mehr ist). Kari versorgt die Mutter, hilft ihr, wenn diese sich beim Trinken einnässt. Die fürsorgliche Rollenverteilung innerhalb der Familie ist buchstäblich auf den Kopf gestellt: Kind sorgt für alkohohol-lädiertes Elternteil.
Kurz nach dem 12. Geburtstag erscheint Malik zum erstenmal. Malik ist eine "sie". Bis dahin sei alles "normal verlaufen". Der tägliche Alltagsstreit, das gegenseitige Heimleuchtenwollen der Eltern.
"Malik tauchte auf und verschwand - in immer kürzeren Abständen".
Kari berichtet anlässlich einer psychiatrischen Begutachtung einer Ärztin.
Auf Befragen der Untersuchenden erzählt sie aus ihrer Jugendzeit. Man nennt das "Selbstexploration" oder "Exploration".
Sie kämpft um ihre Zurechnungsfähigkeit. Sie befindet sich in Untersuchungshaft.
Eine Telefonzelle habe als erstes gebrannt - Malik sei beteiligt gewesen, gewissermaßen ihre Idee. Nachdem das Feuer sich richtig entfaltet habe, sei Malik einfach abgehauen, so dass sie sich nicht zu zweit freuen konnten.
Bald brennt auch ein Haus - in der Stadt, in welcher der abtrünnige Vater wohnt (mit der Tante zusammen). Und noch mehr Brände geschehen. Karis rote Schuhe sind weg - einfach so. Dafür trägt sie Malik, wenn sie auftaucht!
Sie - Malik - bereitete bereits dem Untersuchungsrichter einige Kopfzerbrechen. Die untersuchende Ärztin aber stellt die gleichen Fragen, fragt mehr und eindringender, als Kari von sich aus zum x ten Male aus ihrer Jugendzeit berichtet - wie vorher schon dem Untersuchungsrichter. Kari wird böse, wenn man sie bohrend nach Dingen fragt, die ihr nicht wichtig erscheinen oder die sie nicht beantworten will.
Ein Bauernhof wird abgefackelt und Malik trägt die roten Schuhe, die eigentlich die ihren sind. Dem Bauern wird der Prozess gemacht, schließlich war es sein Brandbeschleuniger, der verwendet wurde, mit dem er sonst die Felder abbrennt, wenn die Zeit gekommen ist.
Die Frau des Bauern verkehrt nun im Hause der Kari Selb und der trinkenden Mutter, die sich flüssig ernährt. Rosa! Sie bringt Maliks rote Schuhe mit. Weder Neid noch Hass begleiten die Brände, äußert sich Kari Selb; auch nicht, als ein Boot in Flammen aufgeht.
Assoziationen tauchen auf - von Kari geäußert, Gerüche, Geräusche, Farben - "rote Nächte, Keuchen Stöhnen, Quietschen", Gerüche nach Verwesung - vermischt mit 4711. "Geruch nach Angst. Sie riechen die Angst? Endlich".
(Auszüge: "Die Hände der Ärztin an der Klingelschnur" - "nur Gespräche - keine Waffe" - "keine Angst zeigen. Ganz unbefangen sein". "Von rot keine Ahnung"...
Wenn sie von der Angst spricht, möchte Kari der Ärztin das Du anbieten:
"Du-du du. Ich - du - Malik und Seraphim. Der Dritte im Bunde". "Seraphim, Sohn einer Hure".
Die Anamnese gibt im Verlaufe der Selbstexploration der Kari Selb noch Schlimmeres preis. Die Rechtfertigung des Handelns mit dem Ziel, Unverständlichem einen logischen Sinn zu entlocken in der gleichzeitigen Erkenntnis, die befragende Ärztin damit nicht zu erreichen ist ein ungeeignetes Plädoyer, damit als "schuldfähig" eingeschätzt zu werden zumal als Ratgeber für die Brandlegungen eben jene Malik infrage kommt, die rote Schuhe trägt, ihre roten Schuhe.
So viel als Einstieg in den sehr komplexen Bereich der Darstellung einer Fehlentwicklung bis hin zu einer gespaltenen Persönlichkeit und/oder Bewusstseinstörung. Die Autorin vermeidet dabei jegliche Diagnosen, beschränkt sich auf die Darstellung von Geschehnissen bzw. Handlungsabläufen - liefert das Umfeld und überlässt die Bewertung dem Betrachter bzw. Leser. Mehr soll nicht verraten werden... außer:
Der Roman endet tragisch - äußerst schmerzvoll. Eine Verkettung unglückseliger Zustände und Ereignisse - die Reaktion eines Opfers, das zur Täterin wird (auf dem Hintergrund authentischer Ereignisse) wurden von der Autorin penibel aufgearbeitet und kompetent umgesetzt.
Mariella Mehr: "Angeklagt", Roman
140 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag,
Umschlaggestaltung: Hauptmann und Kampa unter Verwendung
eines Photos von Berno Hjalmrud /Photonica
Verlag Nagel & Kimche, Zürich, ISBN 3-312-00294-X
Fasse ich die einzelnen Bände der Trilogie zusammen, so fließen geschichtshistorische Elemente, persönliche Erfahrungen und Erlebnisse sowie Recherchen, durch schriftstellerisches Handwerk gekonnt umgesetzt, in einen Themenbereich, der bis in die Gegenwart brisant und höchst aktuell ist. Unverständlich ist mir, dass eine zweimal vergriffene Ausgabe ("Daskind") nicht ein drittes Mal aufgelegt wird.
Hartmut T. Reliwette
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