Hartmut T. Reliwette
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REZENSIONEN  


Karl-Heinz Schreiber:
Der Meerschwimmer oder Heimat für Blumberg
Spätbürgerlicher Roman aus der undefinierbaren neuen Zeit
Blumberg-Tetralogie - Zweiter Teil

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Für seinen Debüt-Roman (zumindest seinen offiziellen) hat der Autor einen gewissen Kurt Blumberg erfunden, jenen Protagonisten, der samt seiner Reisetasche von zu Hause ausbüxt und sich auf Reisen begibt, um zu sich selbst zu finden oder/und seinen Körper in Relation zu seinem Geist und der Umgebung zu setzen. Diese besteht zum einen aus der gewachsenen Natur (oder was der Mensch davon übrig gelassen hat), andererseits aus den Menschen, die den Erdball in Beschlag genommen haben.

Dem Vorwort vorangestellt ist in kursiv (diesen Sinnsprüchen, Quintessenzen, Essays, Gedichten - zumeist in deutscher aber auch englischer Sprache verfaßt - wird der Leser auf seiner Entdeckungsreise bis hin zu den hintersten Hirnwindungen des Philosophen-Poeten KH Schreiber häufig begegnen): "Mir ist's eine sonderbare Empfindung, unbekannt in der Welt herumzuziehen, es ist mir als wenn ich mein Verhältnis zu den Menschen und den Sachen weit wahrer fühlte."
Dieser Satz stammt von J. W. v. Goethe aus einem Brief an Frau von Stein. Sarkastisch könnte einer hinzufügen, daß jeder Prominente davon ein Lied zu singen weiß ...

Auf alle Fälle eine gute Empfehlung an den Leser, den Menschen KH Schreiber ernst zu nehmen bzw. den Blumberg, dem es knüppeldicke kommt: Das ganze Drama (oder ist es letztendlich gar keins?) gliedert der Autor in fünf Bücher, einen Vor- und einen Nachspann. Der "Vorspann mit Erwartung oder das Leben ist Kunst" wird eingeleitet mit

"losreißen
will ich mich
aus Stimmungen
wo es Indizien gibt

man gab mir Zeitungen -
ich wollte Fahrkarten"


"In der Weite des grenzenlosen Meeres sich geborgen fühlen (wie ein Embryo in der Fruchtblase der Mutter, ihren Herzschlag pochen hören als etwas Vertrautes, Gleichmäßiges - Anmerkung des Verfassers) so wie die Poesie grenzenlos ein Vertrauen ist auf Weite - nicht beachtend irgendwelche nutzbringenden Ziele menschlichen Irrens, während die kirchlich-religösen Tröstungen und Verheißungen sich letztendlich im Adaptieren an weltliche Vorgaben totlaufen".

Das erste Buch ist überschrieben mit "Heimatflucht oder Das Meer annehmen"

Auffällig an Blumberg ist zunächst, daß er in seiner Reisetasche eine Personenwaage mit sich führt und sich ohne Verabschiedung von seiner Familie in Richtung Meer abgesetzt hat. Der Protagonist ist häufig ratlos über den speziellen Stellenwert seines Lebens, dafür sinniert er fortlaufend. Die Themen gibt allerdings der Autor vor, der wiederum zu bedenken gibt, daß es nicht speziell nur seine Themen sind, sondern vielmehr möglicherweise die Themen eines Jeden.

Gleich zu Beginn der Reise wird der tatsächliche Wert des Menschen errechnet, wobei die Preise für diverse Chemikalien wie Hämoglobin oder andere Fermente und Zutaten des Organismus nach den Preisen eines Konzerns für Laborchemikalien in Ansatz gebracht werden mit dem Ergebnis, "daß der Mensch als Organismus unbezahlbar sei, leider ist der Mensch selbst nicht unsterblich".

Bereits hier deutet der Autor an, worauf sich der Leser einzulassen hat, wenn er das Buch z.B. als zeitzerstreuende Lektüre mit ins eigene Zugabteil während einer längeren Fahrt von beispielsweise M. nach H. zu mißbrauchen trachtet (Anmerkung des Verfassers). Ein Roman muß nicht unbedingt ein Roman sein - im herkömmlichen Sinne beispielsweise - als Ersatz für eigenes Erleben. Blumberg passieren die unmöglichsten Dinge, z.B. ein Reisetaschen-Vertausch. Seine Waage ist weg. Im Gegenzug ist er um zigtausend Euro reicher. Grund genug für Blumberg zu sinnieren: Ob es sinnvoll ist, die Physiognomie durch einen Bart zu verändern oder wahlweise in Erklärungsnot zu geraten, einen putativen Bankraub nicht begangen zu haben...

Blumberg denkt auch über die Moral der westlichen Welt nach: "Frauen müssen nackt und schlank, Männer zahlungskräftig sein" - und kommt zu dem (Denk-)Ergebnis, daß in diesem Falle die "Regierungsform" relativ egal sei: "Schlimmstenfalls käme es auf das Wetter an".

Es gäbe über acht DIN A4 Seiten an Notizen für ähnliche Beispiele und den Beweis, daß ein Poeten-Philosoph durchaus in der Lage ist, zynisch zu werden, wenn es darum geht, die eine oder andere systemabhängige Aberration (lat. aberrare = Irrtum in der Sache) durch das vielgepriesene Individuum der Lächerlichkeit preiszugeben - oder anheim zu stellen. Günstigenfalls erhebe man Zynismus in die gesellschaftlich geduldete Oberetage der Satire / des Kabaretts (Anmerkung des Verfassers).

Damit nicht genug: Schreiber legt noch eine Schippe nach: "Ein Jeder schaufle in Demut sein eigenes Grab mit Werken, die heilig klingen, jedoch nur Systemwahn signalisieren".
Fatalerweise ist Blumberg Künstler, genauer gesagt, Bildhauer. Daß es Künstler (besonders im Umgang mit Behörden, die mit dem Ankauf und Verbleib des Objektes "Elliptische Creation" auf öffentlichem Stellplatz überfordert sind - nur weil eine Schweißnaht reißt) nicht einfach haben, beweist die Situation, in welche Blumberg geraten war. Unter anderem fällt ein Satz auf: "Wenn sich Borniertheit feiert, haben Argumente Betriebsausflug".

Jedoch weiß der Autor nicht nur durch schlagkräftige Polemik zu begeistern (wenn der Lesende nicht inzwischen das Buch aus dem Zugfenster geworfen hat - damit hätte er den Status des Nichtlesenden erworben) sondern auch durch vehementes Eruieren sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse, z.B. der Interpretation des Begriffes "Erwartung" (natürlich innnerhalb und an Teilnehmer einer Gruppe, was sonst?). Getopt (nicht gedopt) werden könnte das nur noch durch die Definition vom "Beamten im Sinne des Bundes- oder Landesbeamtengesetzes". Was haben Juristen mit Sozialwissenschaftlern in diesem konkreten Fallbeispiel gemein? Ausformulierungen der Inhalte bis zur Unkenntlichmachung dessen, wonach eigentlich gefragt wurde (Anmerkung des Verfassers).

Blumberg denkt und reist und denkt - und ruht sich aus - wenn die Atmung stimmt, eine Tüte Erdnüsse in greifbarer Nähe ist (oder Dosenbier). Die Reisetasche mit dem Geld landet in einem Schließfach, der Schlüssel wird per Post an die Ehefrau als Zeichen des eigenen Lebens versandt. Eine Sprengstoffexplosion vernichtet die Schließfächer Nr. bis Nr. Auch das Behältnis, in welchem die Tasche mit dem Geld lastet, wird zerstört. Zu Hause ereignet sich ein Banküberfall. Grund genug für Blumberg, heftige Überlegungen anzustellen. Was kann man einer Ordnungsmacht zutrauen? Welche (falschen) Schlüsse mögen aus Zufälligkeiten gezogen werden?

Der Autor beschreibt die menschlichen "Highlights" teilweise sehr amüsant, zumeist bissig - wie es eben die erkenntniskritischen Schulen lehren (Pisa sei's getrommelt und gepfiffen). Noch muß sich Blumberg mit eigenen Gedanken beschäftigen - auf der Reise zur Insel. Mit der Fähre. Bald trifft er auf Gesprächspartner, die der Autor geschickt in die Handlung einbezieht. Der Protagonist kann nicht ständig Selbstgespräche (Gedanken) mit sich haben, auch wenn er sich im Folgenden in die Rolle eines Großstadtgangsters denkt: "In den Taschen immer Geld - und Erdnüsse".

Der Autor greift das Klischeè an, das in den Köpfen von Durchschnittsbütteln- und Romanen (Anmerkung des Verfassers) das Wesenhafte im Umgang untereinander zersetzt, schließlich jede Bemühung von Kulturschaffenden ad absurdum führt. Was man auf und mit dem Meer alles anstellen kann, erfährt der Leser in Form von eingestreuten Erfolgs- oder Katastrophenmeldungen der Medien: Mit dem Tretboot übers Meer (gescheitert), durch die Behringsee geschwommen. Derlei Meldungen brachten ja Millionen zum Weinen, zum Jauchzen aber auch zum Kopfschütteln. Stets sind die Motive unterschiedlich: Der eine macht's aus der Motivation heraus, eine schier für unmöglich gehaltene Leistung zu vollbringen (Guiness-Buch der Rekorde), der andere aus sportlichen Gründen (Herausforderung annehmen und sich beweisen, daß man ein Großer ist), eine Dritte will auf die Rechte der (reservatisierten) Indianer aufmerksam machen oder Spendengelder für ... sammeln.

Schreiber erlaubt - ja fordert - den Leser zu eigenen Betrachtungen heraus: Was bedeuten Lebensmechanismen, Wertestrategien, die nicht die eigenen sind, dem Menschen - für den Menschen? Was resultiert letztlich daraus? Sind Strategien Lebenshilfen oder bedeuten sie eher eine Entfremdung von sich selbst?

Und immer wieder tauchen diese kursivgedruckten Essays (?) auf - Wörter, Begriffe, Definitionen zu Sinnketten aneinander gereiht, bezogen auf bestimmte (Lebens-)Situationen, (Gefühle, Befindlichkeiten,) zu entsprechenden Anforderungen oder Beanspruchungen durch Menschen, die sich begegnen oder auf fremden Füßen stehen.

Der Autor will ernst genommen werden, fraglos gelingt ihm das. Zuweilen schlägt er den (sensiblen) Leser brutal vor den Kopf: Auf englisch steht zu lesen:

"Papi und Mami
Ich danke Euch
Für meine Geburt
Ich hoffe
Ihr hattet
Einen guten Fick"


An anderer Stelle heißt es:

"Attrappen garantieren
keine Harmonie!
Welch überhandnehmende Koketterie!
Wie die Erde versucht
Uns auszuweichen!
Unausweichlichkeit wäre
Ohne Zweifel faszinierend
Das wäre aber auch alles"


Im Verlaufe des zweiten Buches "Nirgends ohne Heimat oder Auf der großen Insel" kommt es zu Begegnungen mit anderen Charakteren. Zunächst ist es ein Hafenarbeiter, mit dem Blumberg redet, es zeitweilig aushält. Dem Autor dient ein zweiter (dritter, vierter, fünfter) "Charakter" als Kombattand.

Wer Schreibers Arbeiten kennt, weiß, daß "Thesen und Antithesen" so etwas wie ein Markenzeichen von ihm sind, weiß aber auch zu schätzen, daß an keiner Stelle der erhobene Zeigefinger droht oder Besserwisserei. Er setzt seine "bauchgeladenen" zuweilen derben Wahrheiten nicht bewußt als ausgleichendes Element quasi als Überleitung zur Geistesdisziplin ein, von der er einiges einbringt - wohl wissend, damit ganz viele Menschen zu überfordern (Friedrich Hegel ist allerdings noch schwerer zu lesen!).

Der Simpel bringt den Autor zuweilen in Rage. Auf den Simpel kann er verzichten. Ein solcher Simpel ist "Müller-Deutsch!" (der allerdings begegnet Blumberg in einem späteren Buch). Vom Trainingslager redet der, von der gesunden Härte, vom "Zack Zack" und "Zupacken" vom "Wissen, wo es langgeht", von "gesunder Härte", bei denen ein krachendes "Schulterklopfen" geradewegs in die Hemisphären der gegenseitigen Anerkennung führt; und das weinerliche Getue abzuschaffen sei. "Nicht paramilitärisch", wie komme einer auf so etwas ... "keine Wehrsportgruppe".

Die mit philosophisch-sozialwissenschaftlich-psychologischen (oder einfach nur menschlichen?) Inhalten stark angereicherte Erzählung fällt durch einen eigenwilligen Schreibstil ins Auge. Oft werden Nebensätze nicht durch ein Komma vom Hauptsatz getrennt, sondern durch einen Punkt. Dadurch erfährt die Bedeutung des Nebensatzes eine sprachliche Steigerung des vorher Gesagten, ist gewissermaßen eine Bekräftigung. Zuweilen bricht es stoßweise aus der Feder des Autors: "Und so geht es. Weiter. Immer." Wo das Vakuum dieser Gesellschaft anzusiedeln ist, weiß der Autor genau zu benennen - explizit. Und mögen auch die vielen Fremdwörter aus dem Griechischen und Lateinischen den Einsatz des Duden einfordern - die Pointen sind ebenso krachend wie verblüffend: "In dieser Welt erhält der Erfinder des Vakuums den letzten verfügbaren Nobelpreis. Den nimmt er dankbar an und hängt ihn sich vor sein Schlüsselloch."

In den weiteren Büchern "Ohne Heimat daheim" oder "Auf der kleinen Insel" - "Eine Heimat keine Heimat oder Der Meerschwimmer" - "Leben ohne Heimat oder Mitten im Festland" kommt es zu weiteren Begegnungen und Erlebnissen Blumbergs - kurz: zu Situationen. Er begegnet einem Vertreter der Politologie, der ein fertiges Gesellschaftskonzept als Allerweltsheil konzipiert hat und einem Mönch, der die Sage von einem Seeungeheuer entkräftet und zum Schluß die Kutte lüftet. Blumberg besucht ein ehemaliges Konzentrationslager, gerät außer sich, verprügelt einen Unverbesserlichen (der sich doch nicht als so hart erweist - im Eifer seiner Aufgebrachtheit übersieht er die Krücken des Mannes), begeht unter dem Eindruck des Erlebten einen fatalen folgenschweren Fehler und macht mit der Justiz und der psychiatrischen Fakultät für ihn unangenehme (und natürlich denkwürdige) Bekanntschaft.

Mehr soll nicht verraten werden. Ach ja, Blumberg wird zwischenzeitlich zum Meerschwimmer - ohne! Anspruch auf Medienrummel. Einen "Nachspann ohne Fortsetzung oder Der Mensch lebt während er lebt" gibt es auch.

Was das "Bewerten" des vorgestellten Buches anbetrifft, so sei ein letztes Zitat angebracht (natürlich völlig aus dem Zusammenhang gerissen):

"Weil der Mensch Geduld hat, hat er Zeit oder
Hat er Zeit, weil er Geduld hat?"


Thesen und Antithesen (oder einfach nur Wahrnehmungen), auf jeden Fall unzählige Fragen über den gesellschaftlichen Zustand im (Kon)Text zur Eigenbestimmung des Einzelnen, seiner individuellen Wertschätzung. Blumberg hat sich bemüht, nehmen Sie KH Schreiber ernst! Es lohnt sich, empfiehlt
Hartmut T. Reliwette

Karl-Heinz Schreiber:
Der Meerschwimmer oder Heimat für Blumberg

Spätbürgerlicher Roman aus der undefinierbaren neuen Zeit
Blumberg-Tetralogie - Zweiter Teil
Erschienen 2005 im Wiesenburg-Verlag, Schweinfurt
301 Seiten, 18,80 €, ISBN 3-937101-51-9, Paperback,
Umschlaggestaltung (Photos auf Titel und Rückseite Margita Schreiber)