Neurotische Hausaufgaben? Neurologischer Zen!
Tom de Toys, der ruhe- und rastlose Weltenbeschreiber hat wieder zugeschlagen: Es ist völlig einerlei, ob man nun zuerst den 10 "Neurosen" des eifrigen Zuständesammlers folgt oder das DinA5-Heftchen einfach auf den Kopf stellt und dem 7-teiligen HAG-Zyklus seines Pseudonyms Herold Himmelfahrt folgt: Der Leser landet in der Heftmitte. Und dort sind "die schönsten Zitate aus Rezensionen zur Anthologie 'Lyrik von JETZT' 2003" wiedergegeben, überschrieben ist das Ganze mit "Neue Lässigkeit contra Junge Milde". Den Gedichten vorangestellt ist ein Zitat von HEL Toussaint: "Und es entscheiden sekunden / wer O ist und wer U / (...) / Wer steht im gleißenden dunkel / wer drängt sich lächelnd nach vorn / (...)"
Die Tagebuch-Neurosen des Autors beginnen mit dem 19.10.03, vormittags am Frankfurter Flughafen mit einem "SONNENGANG" und der Vermutung, dass es noch sinnvoller sei, "dieses tagebuch mit einem weiteren manifest zu beginnen anstatt naturalistischer naivität zu verfallen, denn die beschreibbare oberfläche meiner reise kennt jeder - irgendwo auf diesem planeten....ÜBERALL DIESELBE SCHWERKRAFT...." Der Anspruch des Verfassers ist es, dem Leser eben das Geistige zu vermitteln, das sich außerhalb des rein formalen Schriftstückes zeigt, weil es sich eben nicht auf das reine "Entziffern von Zeichensystemen" beschränke, welches ohnehin schon "selbstgenügsam" mache, was dann nicht zwangsläufig auch durch das "Lesen" zu mehr VERSTEHEN (als das, was das Schriftstück von alleine zeigt) führe. "das paradoxon der poesie liegt genau wie beim modernen gemälde im geistigen und das hat sich leider als unvermeidbare depression der dichtung erwiesen". Wer dem Autor bis hierher gefolgt ist, bekommt eine Ahnung davon, welchen Sinn die typografischen Anordnungen von Groß- und Kleinbuchstaben in den Überschriften der Texte übernehmen. Verständlicher wird das Ganze hingegen nicht in jedem Falle. Teilweise muten die Überschriften mit in Klammern gesetzten Großbuchstaben wie mathematische Formeln an; so bekommen die Worte Mehrfach-Bedeutungen und werden zu Poesie-Begriffen von Stimmungslagen oder Schwingungen oder eben "Begriffsbildern", die der Autor an den Leser vermitteln will.
Im Verlauf seiner zehn folgenden Gedichte erfährt der Leser mehr aus den gedanklichen Impressionen einer Reise zu verschiedenen Orten der Erde, an denen die vom Autor und seiner Poesie beflügelte Menschenliebe in der Realität strandet: Dort, "wo die Menschen wohnen / die nicht lieben können". Eines dieser Themenbilder, "ME(G/T)A(SA/RE)TORI(K)", welches die Begriffe Meta-Retorik, Mega-Retorik, Mega-Satori und Meta-Satori beinhaltet und auf die Sinnfrage hinausläuft, die schon viele Poetenkünstler beschäftigt hat: Welche grundsätzliche Lebensphilosophie die Götter dieser Welt überflüssig macht und doch die Menschen befähigt, "ohne in schwermut zu versinken / oder der angst zu verfallen / (...) / und das leben auf dem raumschiff erde / als allgemeines paradies geplant würde". Zuvor müsse aber ein unendliches Loch geschaffen werden, so der Autor, durch das das Bestehende mit allem "drumherum" hindurch passte, "damit der spuk endlich vorbei wäre".
Und als Gegenpol dieser selbstzerfleischenden erkenntniskritischen Dichterphilosophie? Der Leser dreht das Heftchen um und entdeckt einen anderen Tom de Toys, der sich mit profaneren Ungereimtheiten wie z.B. den (unterschiedlichen) Begehrlichkeiten zwischen Mann und Frau auseinander setzt. Schließlich gipfeln die Hausaufgaben in einer "MuTPRoBe" als "ORGAN!SCHES SCHLUßLiCHT" - O je! Dem Leser wird es schwindelig werden bei all der Neuorientierung, die da aufgezeigt wird als putativer Therapieansatz für eine Gesellschaftsheilung von Fremdbestimmungen...
Hartmut T. Reliwette
Tom de Toys & Herold Himmelfahrt: "NeUROZeN / HaUSaUFGaBEN"
17 Gedichte (NZ- und HAG-Zyklen), DinA5-Broschüre, 76 Seiten, 10 Euro
Edition "doPPelsondAdruck" im G&GN-Verlag, Berlin, Januar 2004
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