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Kai Engelke

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geb. 01.04.1946 in Göttingen, lebt im Emsland. Schriftsteller, Kulturjournalist, Liedersänger, Maler und (Teilzeit-)Grundschullehrer. Freier Journalist für Tageszeitungen, Magazine und den Rundfunk. Bisher 26 Veröffentlichungen bzw. Herausgaben, Mitarbeit an mehr als 100 Anthologien. 1981-88: Initiator und Organisator der Surwolder Literaturgespräche. 1989: Georg Herwegh-Literaturpreis. 2001: künstlerische Leitung der Landesliteraturtage Niedersachsen / Bremen. 1998: 1. Preis beim Hamburg-Wilhelmsdorfer Poetry-Slam. 2001: Bestenliste "Das neue Buch in Niedersachsen und Bremen" Mitarbeit bei Rundfunk und TV; rege Lesungstätigkeit in allen Bundesländern.

Homepage: www.kaiengelke.de






Bis zur Salomo-Friedländer und denn links

Opanplatz? Kennick nich! Nee, wartense: Sie mein wahrscheinlich Paul-Zech-Platz, oder? Olle Opanplatz heißt nämlich seit n paar Jahrn Paul-Zech-Platz.
Also, wir sind ja hier inne Ernst-Toller. Denn müssense - wartense - müssense hier runter, anne Else-Lasker-Schüler-Straße vorbei, Armin-T.-Wegner-Wall drüber, Franz-Jung-Straße ooch drüber, denn kommt - lassense mich übalegn - denn müsste komm ... jenau: Claire-Goll-Straße, ooch drüber, Albert-Ehrenstein-Ring vorbei und denn nächste links rinn, det is det Walter-Mehring-Ufer. Denn müsstense schon 'n Klabund-Platz sehn, loofense direktemang druffzu. Da jeht ja die Haringer ab, denn Irmgard-Keun-Straße ...abba Sie müssen auffe Erich-Mühsam-Straße achten, hamse jehört? Erich-Mühsam-Straße, janz wichtich. Nich, dasse schon vorher inne Oskar-Maria-Graf-Allee einbiejen, det wär zu früh. Denn kämse nämlich direktemang zum Theodor-Kramer-Platz, und da wollnse ja jar nich hin. Sie wolln ja zum Paul-Zech-Platz, oder? 
Wat wollnsen da eijentlich? Naja, jeht mir ja auch nüscht an. 
Also: Erich-Mühsam-Straße - wer dit nu war, weeßick ooch nich, aber ejal. Erich-Mühsam-Straße und denne, und denne, lassense mir nich lüjen ... jenau, die zweete ... die zweete Kreuzung links, det is die ... die, nee, det is der Alfred-Döblin-Ring, da wärnse vakehrt. Müsstense ja die janze Salomo-Friedländer zurück. Die zweete Kreuzung rechts müssense, dit is nämlich die Walter-Benjamin-Umjehung. Da fahrnse erstema imma jradeaus, bis die Straße sone kleene Biegung nach links macht und denne müsste auch schon der Max-Hermann-Neiße-Weg komm. Det is son janz kleener. Müssense uffpassen, sonst sindse vorbei. Watsachtick? Max-Hermann-Neiße - jenau. Da durch, stoßense jradewegs auffe Gertrud-Kolmar-Straße, könnse jar nich vafehln. Denn sindse praktisch schon da. Fahrnse links inne Jakob-van-Hodding-Allee rinn, bis Johannes-R.-Becher-Ring. Naja, der mündet ja direktemang inn Paul-Zech-Platz. 
Abba nu varratense mir ma, watse da eijentlich wolln?
Wat? Jedenkvaanstaltung Büchavabrennung? ... Wattet so allet jibt! Na denn man zu. Schön Tach noch!

Februar 2003





Die Ruhe auf dem Lande ist oft stille Wut
(für Nicolas Born)

Brinkmann hatte wirklich was drauf, sagt Wondratschek über den dicklich Poeten aus Vechta, der den Rock'n'Roll-Tod starb.
Keine Ahnung, was Fried von Bukowski hielt und P.P.Zahl über Mühsam denkt, Borchert fänden die sicher alle stark.
Und du, Born, für den es so grausam ist, mit dem Gewissen nix verhindern zu können, was meinst du?
Ach, was rede ich? Am schlimmsten ist, dass wir von dir nichts mehr erfahren über uns.
Willst du ein paar Tage von meinem Leben, Born? Ich schenke sie dir. Hier, nimm diese Tage, richte sie dir gut ein. Nur schade, dass ich nicht dabei sein kann!
Sieh das täuschende Grün der Bäume, und die Erde riecht in der Märzsonne, als sei nichts geschehen. Sogar das Wasser schmeckt noch nach Wasser. 
Jetzt regnet es. Ich weiß, regennasse Hausdächer wecken deine Melancholie, aber was soll ich machen?
Dabei könnte es so schön sein, hast du selbst gesagt, eine Welt der Machtlosigkeit, in der der Vorteil des einen nicht der Nachteil des anderen ist.
Warum, warum nur hast du so fest und unerschütterlich an die Wirkung der Ästhetik geglaubt, ausgerechnet du, bei dem schon im Titel eines Gedichts das Wort Scheiße vorkommen konnte? Ich weiß, ich weiß, das muss kein Widerspruch sein! Nur, du wusstest doch ganz genau, dass alles nun unaufhaltsam den so sauber und akkurat begradigten Bach runtergeht. Aber so ganz aufgegeben hattest du unsere Welt dann doch nicht, oder?
Das hab ich an dir immer bewundert: stolz, mit erhobenem Kopf hast du sie erwartet und sahst sie kommen, die Apokalypse, auch deine ganz private. Und was hieltest du ihr entgegen? Gedichte! Deine Gedichte! Stillleben der herrschenden Gefühlswüsten, ästhetische Verse gegen Endlagerungsstätten, Lyrik gegen Ignoranz und Dummheit, Poesie gegen Panzer!
Und Hoffnung? Hoffnung kommt bei dir kaum vor. Wohl aber Mut. Und das heißt schon etwas in einer mutlosen Zeit!
Du rauchst soviel!
Die Ruhe auf dem Lande ist oft stille Wut, hast du einmal geschrieben. In Lüchow und auch anderswo war die ländliche Wut oft sehr laut, und das ist auch gut so!
Nie, nie hast du dich eingereiht in das Heer der programmatischen Agit-Prop-Dichter mit all ihren plakativen Wegwerftexten, und doch hast du stets die Dinge beim Namen genannt.
Je mehr ein Autor weiß über seine Zeit und sie einbezieht in seine Arbeit, desto zeitloser erscheint sein Werk. Du wusstest sehr viel über deine Zeit, Nicolas Born!
Unsere Pflicht heißt Gegenwart.
Weißt du was, Born, ich hab mir das Rauchen abgewöhnt.





Die blaue Blume
"Ich wusste noch nicht, dass der mond das
vorweggenommene antlitz ist der erde."
Reiner Kunze


Von hier aus kann ich einige der Gebäude sehen, in denen die anderen wohnen. Ein paar Stallungen der Tiere liegen in meinem Blickfeld. Gleich hinter meinem Haus beginnen die Felder und Plantagen, das ist der ökologische Landwirtschaftsbereich von "Biosphere V".
Manchmal schließe ich die Augen, rieche und höre, und dann ist es ein wenig, als sei ich zu Hause. Zu Hause...
Ich bin hier unter anderem verantwortlich für die Rinder und für die Ziegen und Schafe. Ich bin Wissenschaftler, genauer gesagt: Biologe. Hatte früher niemals mit so genannten Nutztieren zu tun. Aber die zu versorgen, ist nun hier meine Aufgabe. Seit mehr als zwei Jahren. Ich komme ganz gut zurecht. Man kann sich an vieles gewöhnen. Insgesamt haben wir hier annähernd 3.800 Tier- und Pflanzenarten - Homo sapiens mit eingeschlossen.
In meiner Freizeit gehe ich gerne in den tropischen Regenwald, der liegt dem Landwirtschaftsbereich am nächsten. Ich mag das Klima dort. Es riecht so gut, und mir gefällt das Gekreische der Papageien. Schön ist es auch, ab und zu einmal im Ozean zu baden und hinterher in der Savanne spazieren zu gehen. Gleich neben dem Ozean beginnt schon das Marschland, mit Salzwasserarreal auf der einen und Süßwasserarreal auf der anderen Seite. Von dort ist es auch nicht mehr weit bis zur Wüste.
Hier bei uns wächst auf engstem Raum zusammen, was nicht zusammen gehört. Bislang haben sich die meisten Tier- und Pflanzenspezies an die vorgegebenen Klima- und Vegetationszonen gehalten. Es hätte auch ganz anders laufen können, dann hätten wir den Eigenwillen der Natur brechen müssen, um ein grünes Chaos zu verhindern.
Wir sind ein autarkes Öko-System. Unsere Atemluft, das Trinkwasser, sämtliche Lebensmittel, unsere Kleidung, die nötigen Haushaltsgegenstände - alles produzieren wir selbst. Selbstverständlich kommen alle Abfälle in den Kreislauf zurück und werden wiederverwertet.
Ich bin einer von zweiundzwanzig noch lebenden Teilnehmern eines ursprünglich als Expedition geplanten Forschungsprojekts. Acht von uns sind inzwischen gestorben. Wir haben sie in der Wüste bestattet. Eine unserer Elektroingenieurinnen ist schwanger. Das Abenteuer geht also weiter. Die Frage ist nur, wie lange noch?
Ich erinnere mich an ein Medienspektakel mit dem Namen "Big Brother" - welch niedliches Spielchen im Vergleich zu "Biosphere V"! Auf uns waren viele Millionen Augenpaare gerichtet. Tag und Nacht. Monat für Monat. Aber ich will mich nicht beklagen! Die Planer unseres Projekts haben sich alle erdenkliche Mühe gegeben, unser Leben hier so angenehm wie möglich zu gestalten. In mancherlei Hinsicht leben wir direkt luxuriös. Unsere High-Tech-Ministadt hat etwas nahezu Elegant-Mondänes. Was lediglich fehlt, ist die Möglichkeit zur Rückkehr. Wir alle sind freiwillig hierher gekommen.
Wir sind ein sorgfältig ausgewähltes Team von hochqualifizierten Wissenschaftlern. Jeder von uns hat für einen bestimmten Bereich die Verantwortung zu tragen. Natürlich gibt es Konflikte, aber die gab es schließlich früher auch. Das ist doch ganz normal! Probleme sind schließlich dazu da, gelöst zu werden. Auch den Ausfall der verstorbenen Kolleginnen und Kollegen konnten wir durch geschickte Aufgabenumverteilungen überbrücken. Es kann ohnehin jeder von uns mit Computer und Schaufel umgehen. No problem. 
Über persönliche Konflikte, die Privatsphäre betreffend, möchte ich mich nicht äußern. Das soll privat bleiben.
Das Schlimmste, was uns gegenwärtig widerfahren könnte wäre, wenn die Umwelt aus dem Gleichgewicht geriete; wenn etwa der Kohlendioxidgehalt in der Luft unkontrolliert steigen würde - das wäre dann wirklich das Ende! Aber noch ist es nicht soweit! 
Am liebsten schaue ich auf den Boden oder in Augenhöhe waagerecht. Der Blick nach oben ist manchmal doch ein wenig deprimierend, Die wabenförmigen Rahmen der Glaskonstruktion stören den Blick in weitere Fernen und werfen ihre Schatten auf die Seele. Aber ich weiß: wir sind gegen Strahlungen und gegen das Vakuum des Alls geschützt. Draußen gibt es keine Atmosphäre. Angeblich soll das Panzerglas sogar kleinere Meteoriten davon abhalten, in unsere Welt einzudringen. 
Die Erde ist noch immer dort, wo ich herkomme, wo ich sie verlassen habe. Sie ist wieder sehr schön. Eingehüllt in Blau und Weiß, hauptsächlich in Blau. Sie ist mir so lieb und gleichzeitig schon ein wenig fremd geworden. Diese bläulich schimmernde Kugel, umsäumt von weißlichen Lichtschleiern, ein Diamant von unermesslichem Wert, Ursprung allen Seins und Werdens, Stätte der Erkenntnis. 
Die blaue Blume der Erkenntnis - ich habe sie gefunden! Ich kann sie täglich sehen. Sie ist da und doch so fern. Ich bin dreihundertvierundachtzigtausendundvierhundert Kilometer von ihr entfernt. Ich umkreise sie täglich.
Die Sonne schickt ihr Licht ins All, und wenn es die Erde berührt, entsteht ein blauer Widerschein. Dann ist es Tag auf der Erde. Das Licht verbindet uns, und nichts steht zwischen uns. Nur das All.
Nicht immer gelingt es mir zu verhindern, dass die Sehnsucht von mir Besitz ergreift. Entweder lenke ich mich dann durch zusätzliche Arbeit ab oder - wenn es ganz schlimm ist - gehe ich ins Planetarium und richte die Linsen auf den blauen Planeten. Ich muss nur auf den richtigen Zeitpunkt achten, damit ich den springenden Tiger zwischen den Wolkenbändern erwische - Norwegen. Die Schnauze ist auf Dänemark gerichtet. An der Westküste wandert der Blick in südlicher Richtung und trifft auf Nordfriesland. Noch ein kleines Stück nach Süden, dann nach Westen, in Richtung Niederlande, dort liegt Ostfriesland. Das war mein Zuhause. Wie mag es jetzt dort aussehen? 
Irgendwo zucken immer Blitze auf der Erde. Das ist normal. Aber vor etwa einem Jahr, da war das anders. Das waren nicht nur Blitze, das waren Explosionen. Gigantische Feuerstürme fegten über den Erdball hinweg. Die weißen Wolken verschwanden, und die Erdkugel hüllte sich in einen zuerst grauen, dann schwarzen Mantel aus Rauch und Asche. Es dauerte viele Wochen, bis endlich das erste zarte Blau wieder durchschimmerte. Seit dieser Zeit schweigt die Erde. Es erreichen uns keine Signale mehr. Wie es scheint, sind wir nun allein. Alles Vollkommene ist still.
Unsere gläserne Arche steht im Mare Tranquillitatis, nicht weit entfernt von dem Ort, an dem am 20. Juli 1969 die Raumfähre Apollo 11 landete, um die ersten Menschen auf den Mond zu bringen. Wir sind die letzten.
Wir blicken auf die Erde, aber von dort schaut niemand mehr zu uns hinauf. Die Erde hat sich vom bösartigen Leben befreit. Sie kann nun wieder gesunden. Wir hingegen leben noch. In dreihundertvierundachtzigtausendundvierhundert Kilometern Entfernung hat etwas überlebt. Wie 's aussieht, sind wir keine Bedrohung mehr.

Ende der Bandaufzeichnung 2/2000





Deutschland den Deutschen
"Die Angst vor dem Fremden
ist eine Angst aus der Steinzeit."
Hoimar von Ditfurth


"Euer Kampf für die arische Rasse, Kameraden, ist ein gerechter, ein guter Kampf! Stolz könnt ihr sein auf eure Geschichte, stolz auf eure Herkunft, die da reicht von den teutonischen Rittern über die Waffen-SS bis hin zu euch, ihr Männer!"
Der das brüllt, im Jahre 102 des Führers, ist amerikanischer Staatsbürger, Imperial Dragon of the White Knights, Ritter des Ku Klux Klan, Robert S. Marshall aus Texas/ USA.
Ihn umringen an diesem kühlen Herbstabend am Rande eines ausgedehnten Waldgebietes in Barndenburg/ Deutschland etwa fünfzig bis sechzig junge Männer. Einige von ihnen tragen weiße Kapuzenmäntel, die übrigen - meist glatzköpfig - Lederjacken, hochgekrempelte Jeans und Springerstiefel.
"Die Zeit der weißen Revolution ist gekommen, die Zeit der Revolution gegen das Fremde ist nun da. Und ich bin sehr glücklich zu sehen, dass das deutsche Volk zu wissen scheint: Ausländer zerstören eure Zukunft! Ausländer haben hohe Geburtenraten, sie zerstören euer Volk! Jedes Mittel muss euch recht sein, die deutsche Nation vor Überfremdung zu retten, und wenn ich sage: jedes Mittel, dann meine ich auch jedes Mittel!"
Robert S. Marshall trägt eine abgewetzte Lederjacke mit SS-Runen an den Ärmeln. Um seinen Hals baumelt ein Eisernes Kreuz der deutschen Wehrmacht.
Manche der jungen Zuhörer beginnen zu frieren, sie treten von einem Bein auf das andere, und wenn sie dem Mann aus den USA nicht gröhlend applaudieren, dann halten sie ihre Arme fest vor der Brust verschränkt, wie um sich vor der Kälte dieser Herbstnacht zu schützen.
Es ist inzwischen nahezu völlig dunkel geworden. Einige Männer tragen brennende Fackeln in den Händen. Ein vielleicht Siebzehnjähriger wiegt eine großkalibrige Pistole in der Faust. Ihn streift der wohlwollende Blick des Dragon of the White Knights.
Nur noch schemenhaft ist am Waldesrand ein etwa vier Meter hohes, mit dürren Ästen umwickeltes Holzkreuz zu erkennen.
"Männer, Brüder! es nähert sich die Zeit des heiligen Eides. So kommt nun zum Kreuz, damit wir die Weihe feierlich vollziehen!"
Ein Fackelträger setzt das Holzkreuz in Brand. Das Feuerkreuz steht flackernd leuchtend vorm schwarzen Wald.
Einer fängt laut und schräg zu singen an: 
"Er ist ein Skinhead und Faschist, er hat 'ne Glatze und ist Rassist..."
Nach der zweiten Strophe fallen die übrigen gröhlend ein: 
"Moral und Herz besitzt er nicht, Hass und Gewalt zeichnen sein Gesicht,
er liebt den Krieg und liebt die Gewalt, und bist du sein Feind, dann macht er dich kalt."
Und bist du sein Feind, dann macht er dich kalt...
"Deutschland den Deutschen! Tod allen Ausländern!", brüllt einer heiser in die Dunkelheit. Dann ist es still.
In das Knistern der Flammen hinein spricht Robert S. Marshall seine Eidesformel:
"Wir geloben, heute und für alle Zeit, unsere Rasse zu ehren, unsere Nation zu lieben und vor fremdem Einfluss zu bewahren!"
Sechzig Männerstimmen wiederholen den Eid in kurzen Abschnitten:
"Wir geloben/ heute und für alle Zeit/ unsere Rasse zu ehren/ unsere Nation zu lieben/ und vor fremdem Einfluss zu bewahren!"
"In unserem Kampf für die arische Rasse und gegen alles Undeutsche soll uns jedes Mittel recht sein, bis zum Endsieg, das geloben wir!"
Der Junge mit der Pistole in der Hand hat diesen letzten Teil des Eides nicht mitgesprochen. Er blickt eine Weile zu Boden, dann richtet er seinen Blick auf Robert S. Marshall, den Abgesandten der Aryan Nation of Idaho.
Der Junge mit der Pistole in der Hand stößt seinem Nebenmann den Ellenbogen in die Rippen.
"Du, hör mal, der Mister Marshall, das is' doch auch 'n Ausländer oder was?"
"Nee", sagt sein Nebenmann, "das is' 'n Ami!"
"Du, hör mal, Amis sind doch aber auch Ausländer oder nich'?!"
"Jo, wenndes so siehst..."
Der Junge mit der Pistole in der Hand hebt seinen rechten, ausgestreckten Arm ganz langsam in die Höhe, schwenkt ihn noch ein wenig weiter nach rechts, seine linke Hand umklammert nun gemeinsam mit der rechten den Pistolenknauf, und die Mündung der Waffe zeigt zielgenau auf Robert S. Marshall, den Imperial Dragon of the White Knights.
"Deutschland den Deutschen!", schreit der Junge mit der Pistole in der Hand und zieht den Abzugsbügel über den Druckpunkt.

10/1991





Am Haken
"Hoy vas a entrar en mi pasado."
(Heute wirst du in meine Vergangenheit eingehen.)


"Ich hab noch gesagt, Heinz, hab ich gesagt, ist doch egal! Lass doch die blöden Blumen! Hol'n wir uns halt welche im Geschäft! Aber er hat nicht auf mich gehört. Hat ja nie auf mich gehört. Hat ja immer seinen Kopf durchgesetzt. Ich sag' noch: Hömma, wenn da Strom drin ist! Pass auf, das ist 'n Elektrozaun! Ich bin ja nich' blöd, sagt er, und schon isser drüber übern Zaun."
Karola Becker schlug die Hände vors Gesicht, ihr Körper zuckte, sie fing an zu schluchzen.
"Das kann doch keiner ahnen, dass das so kommt! Was sollte ich denn machen?"
"Nun beruhigen Sie sich mal wieder, Frau Becker", sagte der junge Polizeibeamte. Er hätte ihr Sohn sein können. Er beugte sich nach vorn, legte ihr die Hand auf die Schulter. "Sie trifft keine Schuld. Sie haben getan, was Sie konnten. Trotzdem müssen wir ja alles rekonstruieren und zu Protokoll nehmen. Wir haben auch unsere Vorschriften."
Karola Becker saß zusammengesunken in ihrem Ledersofa. Der Polizist hockte auf dem vorderen Teil eines dazugehörigen Sessels. Er wirkte unsicher. Fühlte sich nicht wohl in seiner Haut. Sein Notizblock lag vor ihm auf dem Glastisch. Der Fußboden war mit schweren, teilweise übereinander liegenden Teppichen bedeckt. An den Wänden hingen Landschaften in Öl. Alles Originale. Von Karola Becker gemalt.
"Das Emsland hat uns kein Glück gebracht", sagte sie. "Wir hatten gedacht, hier einen ruhigen Lebensabend zu verbringen, nach all der Hektik und all dem Schmutz im Ruhrgebiet. Duisburg ist ja 'ne schöne Stadt. Aber wir wollten ins Grüne. Und jetzt bin ich allein. Jetzt ist er tot." 
"Das Leben geht weiter, Frau Becker", versuchte der Polizist sie zu trösten. "Ich bin ganz sicher, es kommen noch einmal bessere Zeiten für Sie."
"Ach, was wissen denn Sie?", murmelte die Witwe. Noch immer hielt sie ihr Gesicht hinter den Händen verborgen, als könnte sie auf diese Weise vor ihrem Schicksal fliehen.
"Ich geh dann jetzt mal", sagte der Polizist und packte umständlich seine wenigen Utensilien zusammen. "Wenn ich Ihnen irgendwie helfen kann, dann lassen Sie es mich ruhig wissen." Leise schloss er die Tür hinter sich.

"Du immer mit deinem Hang zum Höheren", hatte Heinz Becker immer wieder gehöhnt. "Wenn du wenigstens mal ein Bild verkaufen würdest. Aber den Kitsch will ja eh keiner haben. Da kannste den Leuten höchstens noch watt draufzahlen, damit sie dir so 'n Schinken abnehmen." 
Wie hasste sie diese Sprüche! Sie zu verletzen, sie gar zu verspotten - das war in den vergangenen Jahren eine seiner Haupttätigkeiten gewesen. Hätte sie geahnt, was es bedeutete, den früheren leitenden Angestellten einer Baufirma ganztägig um sich zu haben, niemals hätte sie sich darauf eingelassen, der Stadt den Rücken zu kehren, um aufs Land zu ziehen.
Früher, da nahm er ihre Versuche, sich künstlerisch auszudrücken wenigstens überhaupt nicht zur Kenntnis. Das hatte ihr aber nichts ausgemacht. Sie hatte ja ihre Freundinnen und vor allem den Kunstkreis in der Stadt, hatte es sogar geschafft, in einer kleinen Galerie ihre Bilder auszustellen. Die Zeitung hatte über sie freundlich geschrieben. Aber hier, im Emsland - da hatte er Zeit, sehr viel Zeit. Und die nutze er nicht selten, um ihre Landschaftskompositionen niederzumachen, sie für wertlos zu erklären. Karola Becker wusste, dass sie eine Künstlerin war. Sie war fest entschlossen, es allen zu beweisen. Er hatte seine Zeit gehabt und nun war sie an der Reihe. Sie wollte arbeiten. Tag und Nacht arbeiten. Befreit von Spott, losgelöst von Häme - nur so kann eine Künstlerin wahrhaftige Kunst erschaffen.
Als Heinz Becker sich eines Tages weigerte, die Rechnung eines Versandes für Künstlerbedarf zu begleichen - sie hatte Ölfarben, verschiedene Pinselsortimente, Leinwände und Passepartouts bestellt - da beschloss sie, ihn aus ihrem Leben zu tilgen. Und zwar möglichst bald. 

"Komm, wir gehen ein bisschen raus. Die Sonne scheint grade. Du kannst nicht immer nur vor der Glotze hängen", sagte Karola Becker, wobei sie sich bemühte, ihrer Stimme einen Hauch von Gleichgültigkeit zu geben.
"Awatt, datt fängt doch sowieso gleich wieder am regnen an", blaffte ihr Mann, ohne den Blick von der Mattscheibe zu wenden, über die soeben die Bilder irgendeines Fußballspiels in der Provinz flimmerten.
"Komm schon, Heinz. Du interessierst dich doch eigentlich gar nicht für Fußball. Bisschen Bewegung, damit wir nicht einrosten. Lass uns mit dem Rad einmal bis zu den Kuhweiden und zurück fahren, ja?" Ihr Ton hatte etwas Süßliches.
"Na gut", brummelte Heinz Becker und erhob sich stöhnend aus dem Ledersessel.
"Scheiß-Wind! Da kommt man ja kaum vorwärts!", schimpfte er.
"Aber es ist gut für uns", rief sie und schmunzelte ein wenig.
Endlich erreichten sie die Kuhweiden. Weit und breit kein Haus zu sehen. Nur eine Schonung mit Mischwald, ein paar abgeerntete Maisfelder und die von Brombeergestrüpp eingerahmte Viehweide. Der Wind wehte immer stärker übers flache Land.
"Ist es nicht herrlich hier?", fragte Karola Becker und stieg vom Rad. Aus einiger Entfernung stierten die Schwarzbunten zu ihnen herüber. 
"Watt soll denn hier herrlich sein? Meinzze vielleicht den blöden Wind oder die glotzenden Viecher da hinten? Los, lass uns nach Hause!"
Karola Becker ließ sich nicht beirren. Angestrengt blickte sie in Richtung Weide, so, als suche sie etwas. Plötzlich streckte sie den rechten Arm aus und rief aufgeregt: "Heinz, guck doch ma'! Mohn! Wie schön! Wie wunder-wunderschön! Und das zu dieser Jahreszeit!"
In ihrer Stimme klang das Entzücken kleiner Mädchen angesichts eines begehrenswerten Spielzeugs.
Und tatsächlich, weit hinten auf der Weide, etwa in der Mitte der Entfernung zwischen Rindern und Ehepaar Becker, wiegten sich drei einsame Mohnblüten an ihren dürren Stängeln im Wind. 
"Die möchte ich malen, Heinz! Sie sind so schön rot!!"
"Hier kannzze nich' malen! Is' doch viel zu windig und zu kalt! Außerdem sind die zu weit weg. Los komm, wir hau'n ab!"
Karola Becker hatte ein Ziel. Sie ließ nicht locker. "Ich will sie ja gar nicht hier malen, sondern zu Hause. Pflückst du mir die Blüten? Bitte, Heinz!"
"Sach ma', bisse bescheuert oder was? Mohn kannzze nich' plücken. Der hält sich nich', der geht sowieso gleich ein. Datt hat kein' Sinn!", belehrte Becker seine Frau.
"Heinz, sei ein Kavalier, ja? Das hat doch aus was Romantisches. Der Herr pflückt seiner Dame eine Blüte. Bitte, Heinz!"
"Der Herr pflückt seiner Dame eine Blüte", äffte Becker seine Frau nach. "Dann zerreiß' ich mir eben die Hose wegen deiner Scheißblüten. Du gibst ja doch keine Ruhe." 
Er legte sein Fahrrad ins Gras und stieg umständlich über den Weidezaun, wobei er es sorgfältig vermied, den Draht zu berühren. Er ging auf die armseligen Blüten zu und bückte sich, um sie zu pflücken. Da kam auch schon mit gesenktem Kopf, wie ein amerikanischer Büffel, eines der Rindviecher angeprescht. Das musste der Stier sein. Die Rechnung geht auf, dachte Karola Becker. Ihr Mann ließ die Blüten fallen, rannte in Richtung seiner Frau, doch ehe er den Zaun erreichte, hatte der Stier ihn schon mit seinen Hörnern gepackt, hob ihn hoch und schleuderte ihn mehrere Meter weit weg. Heinz Becker gab - entgegen seiner sonstigen Gewohnheit - nicht einen einzigen Laut von sich. Der Stier setzte hinterher und verrichtete seine blutige Arbeit bis zum Schluss. 
Da verlor das Tier sein Interesse und trabte zu seinen Artgenossen zurück, die noch immer, scheinbar teilnahmslos, aus einiger Entfernung das Geschehen beobachteten - genauso wie Karola Becker. 
Ihr Blick wanderte hin zu einer Wasserpfütze, in der sich grau der Himmel spiegelte. Eine geschlossene Wolkendecke hatte sich inzwischen vor die Sonne geschoben. Ein Düsenjet donnerte über das Land. Ein paar Tauben flatterten schwerfällig auf. Von Nordosten her zog eine dunkelviolette Regenfront heran. 
Hatter Recht gehabt, dachte Karola Becker. Sie warf einen letzten Blick auf ihren Mann, bestieg dann ihr Fahrrad und fuhr nach Hause. Die Rückfahrt ging sehr flott, erforderte weniger Kraftaufwand als die Herfahrt. Sie hatte nun Rückenwind. 
Der Himmel in der Wasserpfütze - das wäre ein Bild, dachte sie. Es muss ja nicht unbedingt Mohn sein.
Bevor sie die Polizei anrief, um den tragischen Unfall zu melden, goss sie sich einen Schnaps ein. Keinen Roten, wie ihn die Landfrauen hierzulande trinken, sondern einen klaren, hochprozentigen.
Sie konnte sich auch nicht erklären, weshalb, aber ihr kam ein alter emsländischer Bauerntrinkspruch in den Sinn, der da lautet: Wenn die Sau am Haken hängt, wird kräftig einer eingeschänkt.

10/2001