Hartmut T. Reliwette
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Jan Matt

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Kosmopolit, freier Autor und Pressesprecher, Buchautor, Publikationen in Anthologien im In-und Ausland, schreibt Leserbriefe an den "Wecker" mit wechselnden Erfolgen. Auszeichnungen: Ist aus dem Berufsverband bildender Künstler ausgetreten, hat eine Mitgliedschaft bei der "Gebrüder Humboldtstiftung" wegen zueigener mangelnder Toleranz ausgeschlagen, ebenso einen Doktor und Professor bei der Akademie der Künste in Rom (Honorarprofessur) und wartet darauf, das Bundesverdienstkreuz "mit Diamanten" ausschlagen zu dürfen, hat sich der "totalen Poesie" verschrieben.






Noch was auf dem Zollstock

Wir haben uns lange unterhalten, mein Freund und ich und auch einige Gläser Rotwein dazu getrunken. Der Abend dämmerte bereits, der Wellenschlag des kleinen Teiches hatte nachgelassen und die blaue Gartenbank trug uns beide.

So philosophieren wir öfter an den Sommerabenden, wenn die Singdrosseln sich die Zähne putzen und der letzte Laubfrosch sich mit kühnem Satz in besagten Teich rettet noch ehe die schleichende Katze ihn als putative Nachtspeise erwischt, weil sie ihn in Ermangelung einer Fielmannbrille für eine Maus hält.

"Rotwein ist gut gegen Herzinfarkt", sagte mein Freund und goss großzügig nach. "Bedankt", füge ich hinzu, "und Essig gut gegen Mückenstiche". Dabei rieb ich meine juckende Wade. "Hätte kommen können schlimmer", kommentierte mein Gesprächspartner stilistisch falsch aber inhaltlich richtig. "Woran denkst Du", fragte ich?
"Skorpion", kam es kurz und trocken zurück. Ich sprang entsetzt auf und ließ mich erst nach einem weiteren Glas Rotwein wieder zum Hinsetzen bewegen. Inzwischen juckte auch der linke Unterarm. Gut, wir leben nicht vor zwei Millionen Jahren, die Saurier gibt es nicht mehr - er hatte die Katastrophe schon der schlimmsten Kategorie zugeordnet, der sich einer in Mitteleuropa aussetzen kann in Sachen "Gliederfüßler".
Wir schwiegen eine Weile, warteten auf das Stichwort des anderen gleich einem beflügelnden "Impetus", der unser Zwiegespräch zu enormen Höhenflügen treibt.
"Wie viel haben wir noch", fragte mein Freund unvermittelt in die Stille, "ich meine - auf dem Zollstock?"
"Hm", sinnierte ich laut, "60 Zentimeter sind verballert - vielleicht noch zwanzig?" Fügte schnell hinzu: "Aber lustige zwanzig Zentimeter, das steht ja nun mal fest!" Dann gab es einen dumpfen Klatsch und eine der blutrünstigen Sauger hatte die Reise ins Jenseits angetreten: "Die hatte gar nichts mehr auf dem Zollstock", kommentiere ich die Bluttat, "ich hätte sie ja warnen mögen, aber sie versteht meine Sprache nicht!"
"Und wenn doch was dran ist an der Reinkarnation"; frozzelte mein Freund, "dann hast Du möglicherweise gerade Deinen Großvater erschlagen..."

Ich legte Protest ein, hielt ihm das leere Rotweinglas auffordernd entgegen: "Na hör mal, mein Großvater war Beamter, der würde niemals seinen eigenen Enkel aussaugen!"
"Wo ist der Korkenzieher", wurde ich gefragt, "sitzt Du darauf?" Ich befühlte mein Gesäß, schaute mich verstohlen nach allen Seiten um ( ich scheue die Öffentlichkeit, müssen Sie wissen): "Da ist nichts!"
Endlich hatte er das Gerät gefunden, es lag neben der toten Mücke im Gras, die langsam ausblutete und an Umfang - weil platt - beträchtlich zugenommen hatte . Bedröppelt blickte ich zu meinem angeblichen Großvater hinab.
"Die Sache ist so", nahm mein Freund den Gesprächsfaden wieder auf, und bevor er fortfahren konnte schob ich noch schnell ein: "Wenn Du anfängst mit "die Sache ist so", dann kommen wir erfahrungsgemäß mit dem Getränkevorrat nicht aus!" Er ließ sich aber nicht beirren und setzte ein zweites Mal an, diesmal mit: "Wie ich schon sagte, die Sache ist die...
"Kommen wir trotzdem nicht mit aus", rebellierte ich aufreizend, außerdem hast Du mir noch nichts von Deinem Zollstock gesagt..."
Mein Freund indessen bewahrte die Ruhe und ließ sich durch meine provozierenden Einlagen nicht aus der Fassung bringen: "Entweder man glaubt an Reinkarnation oder man glaubt es nicht", stellte er lakonisch fest, "interessant ist diese Theorie alle Male und im Übrigen gar nicht so abwegig; hast Du nicht schon einmal das Gefühl gehabt, dass Du vorher als andere Person schon einmal gelebt hast?"
"Ich war Cleopatra" rief ich triumphierend und trotzig zugleich, "ha, das hättest Du jetzt nicht von mir gedacht, auf die Knie mit dir, aber dalli dalli!"
Es ging mir einigermaßen flott von den Lippen, obwohl ich das Gefühl hatte, dass die Sprache meinen Gedanken bereits um einige Millisekunden nachhinkte. Ich beschloss, diese Wahrnehmung im Auge zu behalten: Klatsch! Ich legte meine übel zugerichtete Großmutter neben ihren verstorbenen Ehegatten und dachte , dass sie jetzt doch friedlich neben einander ruhten, was ihnen im vorherigen Leben wegen eines Scheidungsverfahrens nebst anhängender Verfeindungen und anderer Unzuträglichkeiten verwehrt geblieben war.
"Es ist überhaupt nicht erwiesen", wurde ich aufgeklärt," dass ein Mensch wieder als Mensch das Leben durchlaufen muss, in einigen Religionen wird davon ausgegangen, dass man - je nach Lebenswandel - auch als niederes Tier reinkarniert wird!"

Ich kannte aus der Schule noch einen physikalischen Lehrsatz, den ich unbedingt jetzt einbringen musste. Die Gesprächsanteile drohten mir zunehmend zu entgleiten, also rief ich hitzig ein "Energie geht nicht verloren", in die Debatte, erntete aber nur ein vorwurfsvolles Kopfschütteln.
"Schalabbern wir noch einen", fragte ich besänftigend und goss jetzt selber ein: "Du musst Dich beim Einschütten konzentrieren, sonst geht so viel daneben, und meine Großeltern brauchen nichts mehr, die sind hin!"
"Wo waren wir stehen geblieben?"
"Beimm niehiederrreheren Tier", half ich ihm auf die Spur zurück und stellte erschreckt fest, dass irgend etwas mit meiner Lingua nicht in Ordnung war zumal ich meinen Freund jetzt auch doppelt auf der Bank wahrnahm: "Für dereie Perhersonen reischt - reicht das voorsügliche Geträhänk aber keiheinesfalsch!"
Erstaunlich war für mich die Feststellung, dass mein Freund noch nichts von seiner Klarheit eingebüßt hatte, obwohl alles von weit weg zu mir herüber zu wehen schien, was er sagte. Und der andere Freund sprach immer das gleiche, die waren völlig synchron - wie in einem Theaterstück nach wochenlangen Proben! Auch war ich mutiger geworden und hatte mittlerweile meine halbe Verwandtschaft erschlagen - der rechte Arm war zerstochen , langsam bildeten sich Quaddeln.
"Meine Verwanhandschaft war nie Aggressiv! Wir waren alle Hugenotten von Beruf! Und wehenn Hitler ein Schawein war, dann ischt er auch nach kurz kurzer aber heheftiger Maschtzeit als SchSchawein gestorben - hicks - wohorden und ich ha habe erst Sonntag ein Kottkotlett gegessen und wasch, so frahage ich Dich, lieber Freuheund, ist aus Ludwich dem Vierschehnten geworhorden, ei eine Scha scha nake vielleicht? Und und und die ganhanzen Ameisen, si sind da die Röhömer kokomplett re reinkahaniert? Das werde ich gleisch morgen überprüfen, welche Kohorte sich da unter meimeiner Fenschterbank etaetabliert hat."

Mein Freund sah mich milde aus seinen 4 Augen an, schüttelte beide Köpfe und sagte synchron: "Du hattest Recht, die Getränke reichen nicht, lass uns ins Haus gehen. Wir standen auf, er stützte sich auf mich, ich versuchte ihn zum Eingang zu dirigieren. Unterwegs begegneten wir meinem reinkarnierten Nachbarn, der vor mehreren Jahren gestorben war. Er fauchte uns an, ich aber wünschte ihm eine gute Zeit und vertröstete ihn auf eine bessere Gelegenheit, brabbelte etwas von "verpasster Chance" und tauchte vorsichtig unter der fetten Spinne hinweg, die sich im Hauseingang im fahlen Licht der Eingangslaterne ein Netz gebaut hatte und darauf wartete, dass sich reinkarnierte Übeltäter in ihrem Netzt verfingen. Ich drehte mich noch einmal um, zog grüßend meinen verbeulten Hut in der festen Überzeugung, Abraham Lincoln begegnet zu sein und brachte meinen guten alten Freund zu Bett, der sich noch über mich beugte und mir aus seinen 4 Augen zublinzelte, dann war er eingeschlafen...





Zugezogene

Wer kennt sie nicht, die "Zugezogenen", die fast jeder von uns in seiner Nachbarschaft hat. Der eine mehr - der andere weniger! Wir, das sind die Einheimischen, die echten Ostfriesen - also, der Verfasser dieser Zeilen wiederum nicht, weil hier ein inzwischen verjährter, aber doch dem Grunde nach vollzogener Zuzug vorliegt. Wir leben halt in einer Zeit einer neuerlichen - wenn auch verkappten Völkerwanderung.

Was treibt die "Nordrhein-Vandalen", wie sie hier landläufig verächtlich benannt werden, in die ostfriesische Steppe? Das ist eine wichtige Frage, auf die es noch wichtigere Antworten gibt. Und was beflügelt einen Gemeindedirektor, diesen Auswanderungswilligen auch noch großräumige Siedlungsgebiete zur Verfügung zu stellen? Was sind das für Leute, die aus Bottrop, Gelsenkirchen, Wanne-Eickel, Dortmund, Essen und dem übrigen NRW aussiedelnd nach Ossitown gelangen - und was, so frage ich mich, ist ihre Motivation???

"Ji bruk mi nix von Kultur proten", seggt een Nauber an mi. Ich habe verstanden: "Kamm und Seife gibt es hier schon seit Jahren! Und auch Liedgut: "Einer geht noch, einer geht noch rein!" Die Nordseewellen indessen, die an de grünen Strand trecken, donn dat in fivunsästich Kilometer nordwärts un die Moorsoldaten strumpeln nu ok nich mehr... Allenfalls konkurrieren Borbecker Vorgartenzier mit althergebrachter ostfriesischer Rasenpflege: "Dat mut all moi schier sünn!"
Übereinstimmend richten beide Kulturen ihre Vorgartenflora mit der Pflanzschnur aus: "In Reihe zu drei Gliedern ausgerichtet: Vordermann, Seitenrichtung, stillgestanden!" Na also! Geht doch!

Doch was finden wir wirklich als auszugs- und einwanderungsauslösendes Moment in den Köpfen der Zugezogenen? Sind es Urlaubserinnerungen an das weite grüne Land zu einer Zeit, da auf der Fehnroute radelnd dem Gast von einer hübschen Schwarzbunten eine verliebte Kusshand rübergemuht wurde: "Muuhhh!" Vielleicht noch ein Augenzwinkern aus großen dunklen Kulleraugen und unausgesprochen zwischen Mensch und Tier flirrt eine Melodie durch den purpurnen Abendhimmel: "Wenn ein Fisch vorüber schwimmt, fährt mit ihm meine Sehnsucht frei nach Julio Iglesias. Oder mag es der unbändige Wille nach Land sein, nach Besitz: "Wüstenrot macht Leute tot", "Lebst Du noch oder baust Du schon?"

Der Traum vom Eigenheim - in Ossitown lässt er sich verwirklichen, Amelsberg sei Dank. Damit die Zugezogenen sich auf der Fahrt in ihr Reservat in der Pampas nicht verirren, weist eine neu restaurierte Windmühle den Weg in die richtige Richtung, auch für jene, die mit Sportbooten anreisen und im Ostrhauderfehner Hafen vor Anker gehen, der ans Weltmeer angeschlossen ist. Der Weg dorthin führt allerdings durch mehrere Zugbrücken, deren zweibeinige Bedienung rechtzeitig über Antrag in zweifacher Ausfertigung angefordert werden muss, um eine Passage zu ermöglichen. Wer zu spät eintrifft, den bestraft das Leben, dann mag die Brückenbedienung bereits abgeradelt sein. Zwei frische Reifenabdrücke der Maße 28 x 1.75 im Gras bezeugen die Anwesenheit und vollzogene Absicht des Brückenwärters.

Pensionäre indessen finanzieren ihren Lebensunterhalt aus nordrhein-westfälischen Restbeständen, während der ostfriesische Einzelhandel - auf Umsatz getrimmt - möglicherweise einige Steuern in das niedersächsische Geldsäckel einfließen lässt. So gesehen findet eine Umverteilung dringend notwendiger Steuereinnahmen statt. Wenn es dem Zugezogenen in Ostfriesland nicht mehr gefällt, bricht er seine Zelte ab und kehrt reumütig in seine Heimat zurück. Oft reicht auch schon ein strenger Winter, um dieses Vorhaben zu beschleunigen. Dann steht wieder einmal ein Haus zur Veräußerung im Tagesblatt und die einheimischen Nachbarn freuen sich schon auf den nächsten Nordrhein-Vandalen.

So ist der Kreis geschlossen in ewigem Wechsel, so wie Ebbe und Flut. Bald schon kommt der Neue, der Zugezogene, wie er hier landläufig bezeichnet wird: "Set Di daol, aber bleib nicht zu lange!"