Im Herzen des Donners
Ich stand auf dem kleinen Balkon. Es war dort genauso schwül wie in der
Küche. Ich versuchte herauszufinden, ob der Donner, den ich in der Ferne
hörte, ein aufziehendes Gewitter war, oder das Grollen der Geschütze
hinter den Bergen. Es war nicht zu entscheiden. Der Himmel war weiss.
Unten auf der Straße war niemand zu sehen. Die meisten Fenster, an den
Häusern oben am Berg, auch an den größeren Gebäuden in der Nähe waren
geschlossen und die Rolläden heruntergelassen. Die Leute hatten Angst vor
Scharfschützen.
Meine Mutter hasst es, wenn ich rausgehe. Sie beeilt sich dann immer mit
dem Kaffee, damit ich nicht so lange draußen bleibe.
Wir sitzen da und trinken Kaffee aus kleinen Tassen. Wir haben noch diesen
einen Luxus in unserem Leben. Das Radio läuft. Die Stimme redet und redet.
Schlechte Nachrichten und eine endlose Reihe sinnloser Hinweise. Wir hören
nicht zu. Und wir reden auch nicht. Auf einmal ist eine lustige Musik zu
hören und ein Programm über Haustiere wird angekündigt. Irgendwie ist das
gut. Auf jeden Fall ist es etwas anderes. Und das ist gut.
Ein Mann hat angerufen und bekam Rat, wie er seine Kanarienvögel richtig
füttert. Ein Kind kam danach dran, es sprach ganz leise, ich konnte fast
nichts verstehen. Der dritte Anruf kam von einer Frau, wahrscheinlich so
um die vierzig. "Ich habe einen Hund", sagte sie. "Wir haben einen Hund",
korrigierte sie. Pause. "Deutscher Schäferhund. Er heisst Whiskey. Er ist
ausgesprochen lieb zu Kindern. Wir... wir müssen unser Haus verlassen...
und wollen jemanden finden..." Sie bricht ab. Als sie wieder spricht, ist
ihre Stimme ganz dünn: "Wir wollen doch vielleicht jemanden finden, der
unseren Whiskey aufnehmen möchte..."
Den Rest habe ich nicht mehr gehört.
Ich starre auf den Boden und versuche meine Tränen aufzuhalten. Ich schäme
mich vor meiner Mutter. Ich schäme mich, weil ich nicht weinte als ich von
den Toten und Vergewaltigten hörte, von den verbrannten Kirchen, den
zerstörten Kindergärten und Museen. Als vor drei Tagen Bomben auf das
Krankenhaus unserer Stadt gefallen sind, wusste ich, dass auch die
Neugeborenen da drin waren. Ich heulte nicht. Ich empfand nichts.
Jetzt aber weine ich - weil mir der Whiskey aus dem Radio leid tut? Weil
er bestimmt kein gutes Heim mehr findet. Weil ich an meine Katzen denke,
die ich zurücklassen mußte, als wir hierher kamen in diese hochgelegene,
betonierte Einsamkeit.
Dann höre ich einen leisen Seufzer und schaue endlich meine Mutter an und
sehe, dass auch sie weint. Ich bin so erleichtert, dass ich gleich laut
loslache und sie, mit nassem Gesicht, lacht auch. Bald sind wir beide
hoffnungslos hysterisch.
Was uns endlich ernüchtert ist der gespensterhafte Luftalarm, der, wie
immer, aus dem Nirgendwo kommt. Wir stehen auf und wollen gleich zum
Luftschutzkeller gehen. Er ist gleich im nächsten Eingang, zwanzig Meter
entfernt. Aber, als wir die Haustür öffnen ist uns sofort klar, dass wir
es nicht mehr schaffen. Wir hören das Jaulen der Granaten, oder sind es
Bomben? Ich sehe die bleichen Gesichter, der Nachbarn im Flur. Die
Explosionen werden lauter, werden unerträglich laut. Manche von uns halten
sich die Ohren zu. Das dauert einige, ewige Minuten. Dann ist für einen
Moment unwirkliche Stille. In diese Stille sagt jemand: "Es bleibt von
der Stadt nichts übrig...", und schon kehren die Explosionen zurück. Es
sind jetzt mehr, näher und näher kommen die Einschläge, bis wir genau im
Herzen des Donners stehen. Dort drinnen kann man nichts mehr denken,
nichtmal: dies Gebäude wird unsere Gruft. Ich sinke nicht zu Boden. Ich
denke an nichts. Und ich habe keine Angst.
MORANA
Es ist Frühling und Kommunismus. Beides im Endstadium.
Das Hotel "Morana", ganz in Glas, überwacht den lauten Wasserfall des
gleichnamigen Flusses. Da drin, im großen Saal des Hotels lächelt uns
Titos Bild an. Ich, siebzehnjährig, muß zweimal in der Woche hierher
kommen um auszuhelfen. Es ist Teil meiner Ausbildung. Ich bekomme es nicht
bezahlt. Ich bekomme auch nichts zu essen hier, außer wenn ich selber
bezahlen will. Also nie. Meinen schwarzen Rock und die weiße Bluse habe
ich selbst kaufen müssen, auch die "orthopädischen" Schuhe und das
komische, weiße Ding in meinen Haaren, dass wie ein Strumpfband aussieht,
und schließlich die zwei Haarnadeln, die es halten. "Warum muß ich das
denn tragen?", attackiere ich unseren Leiter. "Mein Haar ist ja kurz
geschoren! Also wozu?"
"Vorschriften, Simic", sagt er. Es ist auch Vorschrift, dass er mich mit
meinem Nachnamen ansprechen muss. "Und was ist, wenn ich mir den Kopf
rasiere?"
"Dann kleben wir es eben mit nem Pflaster drauf" sagt er, der dumme Kerl.
Aber, man muß ihm eins lassen: er lacht nicht über seine eigenen Witze.
Sonst hat anscheinend keiner etwas zu fragen. Wir werden dann eingeteilt.
Meine Gruppe geht in die Küche.
"Womit dürfen wir das Besteck polieren?", frage ich den Oberkellner
höflich. Er dreht sich um und macht eine große Holzkiste auf, entnimmt ihr
ein Tischtuch. Einen Augenblick vorher habe ich gesehen, wie ein
schieläugiger Kellner sich mit eben diesem Tuch seine schwarzen Schuhe
geputzt hat. "Danke", sage ich, nehme das schmutzige Tuch und mache mich
an die Arbeit. Bald funkeln die ersten, der in Essig gewaschenen Messer
und Gabeln und auch die kleinen Dessertlöffel blinken.
Dana steht neben mir und poliert mit dem anderen Ende vom großen Tuch.
Ihre schweren Brüste folgen dem Rhythmus ihres Atems. Dies geht nicht ohne
Aufsehen. Dana redet nicht viel. Dafür seufzt sie, hin und wieder
melancholisch. Die Männer sagen: "Guten Morgen, Dana", wenn sie
vorbeigehen, und nicht einer wüßte die Farben ihrer Augen, wenn man danach
fragen würde. Wenn Dana mal allein ist, wird sie der eine oder andere der
Männer sicher aufsuchen. Und wird sie dann anbetteln: "Dana, schau mal,
meine Blume, nur für dich, Dana. Lass sie nicht verwelken. Leg deine weiße
Hand drauf." Dana hat eine gute Seele, weich wie frisches Brot. Die Männer
tun ihr leid. Bevor das Elend zu lange anhält, bekommt jeder ein bisschen
von dem, was Dana so alles hat.
Dann ist Nachmittag und wir warten an den Tischen, verteilen die heiße
Suppe. Warten wieder. Die Gäste sind, wie fast immer, Politiker. Sie
bekommen am Ende keine Rechnung - die wird irgendwohin geschickt und von
irgend jemandem dann magisch erledigt.
Ich versuche niemanden zu beobachten. Es ist schwer. Ich geb es auf. Sehe
dann also einen Bauch, der mit Hilfe eines Gürtels Selbstmord begangen
hat, und jetzt tot aber weich einfach da hängt.
Meine vaginalen Muskeln zucken zusammen. Wie, wenn eine Nadel eindringt.
Wenn es ein Gegenteil von Orgasmus gibt, hatte ich wohl gerade einen.
Meine Beine sind müde. Es tut gut wieder zu laufen. Zurück in die Küche
mit den schmutzigen Tellern.
Da steht einer, rauchend am Notausgang und sagt, zu niemandem oder allen:
"Es wird wieder Krieg geben. Wir auf dem Balkan können den Frieden nicht
viel länger aushalten."
Ich schaue nach draußen und es beginnt zu regnen.
Ende vom Anfang.
Ich kam raus.
Hände hoch,
wie in einem Kriegsfilm.
Nichts in den Ärmeln
versteckt: nein, ich denke
nie so weit.
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