Hartmut T. Reliwette
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Raimund Samson

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Textauswahl:

geb. 8.01.1952, lebt in Hamburg. Herausgeber der Literaturzeitschrift "Herzgalopp" und der Anthologie "Feldpost 2000", Moderator eines freien Kanals in Hamburg, Rezensent, Künstler, Puppenspieler, Autor.

Homepage:
www.herzgalopp.de.vu






Kunstguerillero

Meine Zaubermittel trag ich nicht in der Westentasche,
sondern streu sie in die Falten meines Stadtplans und
zwischen alte Tuschkästen und Bleistiftstummel.
Wilhelmsburg heißt der schläfrige Stadtteil, dem ich mein
Stacheldraht-Herz verschrieb.
Mit Pinsel und Radiergummi bewaffneter Traumtänzer
mühsamer Freiheit
verweigere ich mich der allgemeinen Entspannung; im Gegenteil,
ich schütte Wachstumshormone auf Politikerstreit und
- ernte BÖSE Blumen...
Querköpfig marschiere ich über die abgegriffenen Seiten von Schundromanen
und summe "Don't worry be happy", wenn ich mich ins
Abstrakte hinaufschwinge.
Oben bau ich mir mein Biwak
Das Hochbett des armen Poeten
Fünfzig Zentimeter unter der Decke
Mein de-zentrales Königreich
Mitten im wunderbaren Labyrinth des Lebens ...

Raimund Samson 1990 - 1999





Besuch in der Psychiatrie

Das Haus, das ich mit einem Bekannten aufsuche, liegt, von hohen Bäumen umgeben, weit hinten im riesigen Park der Anstalt. Es wirkt kompakt und gut befestigt: ein massiver, aus mehreren Flügeln bestehender roter Klinkerbau; zweistöckig. Einige Autos stehen auf dem Parkplatz. Die gesamte Anlage macht einen sauberen, gepflegten Eindruck. Jo klingelt. Der Türöffner summt, wir werden eingelassen. Dann noch eine schwere Tür und man steht in der Eingangshalle. Ein Wachmann im mit Panzerglas gesichertem Büro zieht unsere Ausweise ein. Wir verstauen ein paar Dinge im Schließfach. Meine Mitbringsel für Rainer* überlasse ich einer Uniformierten. Sie werden später, nach eingehender Kontrolle, dem Patienten bzw. Gefangenen ausgehändigt. Bevor Jo und ich die Treppe hinaufgehen zum Wohnbereich, müssen wir eine Leibesvisitation mit Metalldetektor über uns ergehen lassen.
Haus 18 ist die am besten gesicherte Abteilung der Anstalt. Vor einigen Jahren war es, nach der Flucht eines mehrfachen Mörders, groß in die Schlagzeilen geraten.
Rainer sitzt im breiten Besucherflur an einem Tisch. Knallroter Pullover, schwarze Hose. Ich erkenne ihn sofort, obwohl Haare und Bart länger sind als in den Zeiten, wo wir uns öfter gesehen hatten. Im ersten Moment weiß er nicht, wer ich bin, aber schnell erinnert er sich. Vor vier Jahren hatte er eine Radio-Sendung gehört, in der ich Ausschnitte einer Lesung mit Peter Paul Zahl eingespielt hatte. Und dann kommt er auf den Brief zu sprechen, den ich ihm einst geschickt hatte. Ich bin überrascht. Damals hatte ich den Kontakt mit ihm auf Eis gelegt, weil er mir mit seinen Polit-Sprüchen und notorischer Agitation auf die Nerven gegangen war. Ich hatte ihm empfohlen, sich einer Therapie zu unterziehen. Wir bleiben bei dem Thema. "Es gibt keine Therapie" sagt Rainer. Er nimmt an keiner entsprechenden Maßnahme teil, und will es auch nicht.
Rainer wirkt sehr ruhig. Er muss regelmäßig Psychopharmaka einnehmen. Nimmt er sie nicht freiwillig, werden sie ihm "verabreicht". Seit Kurzem bekommt er zudem Mittel gegen die Panikattacken, die ihn alle zwei bis drei Tage peinigen.
Jo redet kaum. Ich bin froh, dass er da ist. Ohne ihn käme ich mir total hilflos vor. Ich fühle mich stabil, aber ein Besuch in der "Klapse" geht trotzdem an die Substanz.
Rainer ist immer noch auf Polit-Trip. Da hat sich nichts geändert. Mit Marx, Lenin, Mao, Stalin über- deckt er seine trostlose Lage - interpretiere ich. Angst? Habe ich nie beim ihm bemerkt, obwohl er welche gehabt hat, isoliert wie er war. Gehabt haben muss. Vielleicht lag es daran: Er durfte niemals Angst zeigen. Man durfte keine Angst zeigen, irgendwelche Schwächen. In der Szene war so etwas verpönt. Schließlich wollte man nicht zur Fraktion der "Sozialarbeiter" zählen. Und heute? Was ist mit den Gefühlen eines Menschen, der jahrelang mit Beruhigungstropfen und Pillen vollgestopft worden ist? Gibt es noch so etwas wie normale Empfindungen und Gedanken? Ist nicht längst alles von der Institution vereinnahmt, bis in die feinsten Verästelungen der Psyche?
R. dreht sich eine Zigarette und erzählt. Er hat nur noch wenige Zähne.
Was weiß ich überhaupt von ihm? Er war Gelegenheitsarbeiter, hatte irgendwann mal eine Lehre angefangen. Und Mitte der 70-er Jahre eine weite Reise unternommen, bis nach Peru und Argentinien. Ein Reisender in Sachen Weltrevolution. "Seid politisch!" war eine Parole in den 70-er Jahren gewesen. R. hatte sich immer daran gehalten. "Raus aus der privaten bürgerlichen Existenz!" Es hatte irgendwie einleuchtend geklungen. - ...und wenn einer eine bürgerliche Existenz nie kennen gelernt hat?, frage ich mich heute. Worauf kann so ein Mensch aufbauen? In Vancouver war R. ins Krankenhaus eingeliefert worden.
Ich versuche ein Gespräch über Bakunin und Erich Mühsam. Er stehe mehr auf Stalin, bedeutet mir Rainer. Ausgerechnet! Dass er sich an diesem skrupellosen Machtmensch und Massenmörder orientiert, kommt mir vor wie Selbstverhöhnung. Hat er vergessen, wie "Väterchen Stalin" mit Außensei- tern und Andersdenkenden umgesprungen ist? Na ja - er verlässt sich auf das, was der Große Führer geschrieben hat: Er hat seine Gesamten Werke gelesen. Und Mao. Komplett.
Rainer weiß noch, wo wir uns kennen gelernt hatten. Es muss 1974 gewesen sein, im Anarcho-Buch- laden "Vencerelda" in Barmbek. Zaghafte Ansätze von Subkultur. Ein paar Kiffer, Spontis, Freaks hatten sich dort getroffen, einer hatte die Zeitschrift Cooly Lully herausgegeben.
Rainer steht ab und zu auf, um am Nachbartisch Feuer zu holen. Schnoddrig, mit ungekämmtem Haar und viel zu weiter Hose schlurft er ein paar Schritte. Kommt paffend zurück.
Die Atmosphäre ist gedämpft. Eine Handvoll Insassen sitzen mit ihrem Besuch an anderen Tischen. Rainer hat nur wenige persönliche Kontakte hier, aber immerhin. Erst jetzt sehe ich hinter einer Scheibe eine Frau in weißem Kittel telefonieren. Sie hat da oben einen fabelhaften Rundblick über alles.
An einer Wand hängen Kunstbilder, von Patienten gemalt. R. meint, dass er nicht malen könne und interessiert sich nicht für Kreativ-Kurse. Seit 1988 lebt er, mit einer längeren Unterbrechung, in Haus 18. Wie hält er so etwas durch? Sein früher breites Grinsen ist abgemagert, sein Lachen stumpf geworden. Da war immer eine Spur Ironie gewesen, etwas Hintergründiges, leicht boshaft. Und jetzt? Kann einer nach vielen Jahren in Unfreiheit noch lachen? Aus ganzem Herzen wohl kaum, denke ich, vielleicht als Echo auf Bilder, die hochsteigen. Erinnerungen. Erinnerungen an Erinnerungen.
Jo verschwindet auf die Toilette. Mir fällt nichts Besonderes ein. Es ist gut, einfach nur dazusitzen. Links von mir fällt der Blick in einen Innenhof, in dem zwei Männer spazieren gehen. Es stehen nicht nur Bäume und Sträucher dort, auch ein paar fette grauweiß gesprenkelte Hühner laufen herum.
Ich kenne nur Bruchstücke aus Rainers Biografie. Vor 12 Jahren war er eingeliefert worden, weil er, in bedenklichem Zustand, zwei Frauen geschlagen hatte, in denen er "Nazis" gesehen hatte. Er war schon immer gegen "Faschos" und "Nazis" gewesen. Unsere Gespräche waren oft darum gekreist. Für künstlerische Projekte hatte ich ihn nie begeistern können, aber einmal war er mir einem Schränkchen aufgetaucht, zum Verstauen von Manuskripten, Stiften, Papier. Es steht noch heute in meinem Arbeitszimmer.
Die Situation ist trostlos. Rainer sitzt in der Falle. Haus 18 ist eine Art Endstation. Welche Chance hat er, jemals aus der "Geschlossenen" herauszukommen, wenn er Juristen und Ärzte als "Nazis" be- schimpft? Welchen Sinn macht es, gegen die Institution zu kämpfen? Mir fällt eine Sache ein, die nun auch schon zwanzig Jahre zurückliegt: Damals war in einer Ausgabe des "Arbeiterkampf" ein Foto von R. abgedruckt worden mit der Aufforderung an die Leserschaft, diesen unbekannten "Neo-Nazi" zu identifizieren. Ausgerechnet R. ein Neo-Nazi!
Am Nachbartisch verabschiedet sich ein Mann. Die Besuchszeit ist abgelaufen.
Ich glaube nicht, dass es jemals zu spät ist, sich um Leute zu kümmern, die eingesperrt sind. Es wird aber, je länger der Zustand andauert, immer schwieriger, den Prozess der Entpersönlichung aufzuhalten. Es sieht so aus, als sei die einst breite Bewegung der "Antipsychiatrie" am Ende. Wenn Therapie nichts anderes bezweckt, als Menschen wieder in das lebensfeindliche kapitalistische System zu integrieren, ist Skepsis angebracht gegenüber solchen "Heilungs"-Strategien. Es müssten andere Wege versucht werden. Aber wie?

Ich mache mich mit Jo auf den Heimweg. Wir gehen ein Bier trinken. Die Sonne scheint.

* Name geändert Raimund Samson





Gefühlslage

Anfangs lustlos
bis heiter.
Später
leicht aufkommender Trotz
mit zunächst noch
verhaltenem
Hochziehen der Augenbrauen.
In der Folgezeit
vereinzelt
finstere Blicke.

Die Vorschau auf kommende
Hoch- und Tiefdruckzonen
bringt eine
mittlere Aussicht auf
kräftige Wutschauer
mit der Gefahr von
Handgreiflichkeiten.
Auszugehen ist von sich
abzeichnender Kompromißlosigkeit,
die sich in Konfrontation
entladen könnte.


ca. 1996-2002





Ins Bodenlose

Mir fällt nichts Neues ein, ich
sitz nur da und hör mein Herz pochen.
Ein Fleck auf der Wand wird
zur Fratze.
Kein Psycho-Drama nimmt seinen Lauf.
Ich bin ganz Ohr,
döse ein paar Minuten, dann
greift der Schriftsteller zum Bleistift.
Das Licht der Schreibtischlampe
blendet.
Ehrlichkeit ist wie Stacheldraht.
Erst schneidet sie ins Fleisch, dann
such ich Zuflucht
bei schönen Bildern.
Mir fallen starke, rebellische Sätze ein,
aber ich weiß: Sie werden
zusammenfallen wie vertrocknete Scheiße,
wenn kein Geheimnis da ist.

Kein Polit-Programm, kein wilder run - Mann,
auf das Unergründliche kommt es an!

ca. 1996-2002





Lygiker

Im Wettstreit der Engel
zerbröselt mein Bengel
die Sonne anschreiend
mit grellem Akkord
die Zunge des Propheten
zu Sand am Strand.
Mit seiner Lyra aus
Klingeldraht und Holz
gewinnt er kein Lorbeer
und haut tänzelnd
die Langeweile
mit wuchtigem Hieb ins Sieb
und brummelt zum
Sturm der political correctness
hübsche Lügen
zur Freude der Kinder
und grasenden Rinder.
Hoch steht sein Drache
und flattert listig
ohne Baum der Erkenntnis.

ca. 1996-2002





Porträt

Er liebt ungezähmte Wesen,
einfache Dinge
und die weiträumigen
Landschaften der menschlichen Seele.
Tagträumend
verliert er sich
fast
im Niemandsland
seiner Statuen, die
mit Beil und Säge ins Licht gezackt.
Quer stehn Nägel
und laufen Drähte gebogen
durch grobes Leinen
nie parallel.
Im strengen Universum der Werkstatt
kaum merklich ein
roter Faden.
Mal tunkt er ihn in Farbe,
dann schneidet er ihn durch.
Er macht sich einen Spaß daraus,
Spuren zu hinterlassen.
Auch ich folgte mehr als einmal
einer falschen Fährte des
lachenden Berserkers.
Stets hat dieser moderne Ritter
ein Ziel im Visier:
Zu lernen.
Es ist so schlicht,
daß keiner es glaubt.
Die Leute suchen gern das Fernliegende.
Und so greift er
Zigarre paffend
zum Faden, um
vergnügt an der
eigenen Legende zu stricken ...

ca. 1996-2002





Kleine Zeitschriften

Notizen verschickt
ins täglich Grau
Vergißmeinicht
knallblau
oder rot in
Stacheldraht geküßt
schwarz & klein auf
blendend weiß Papier
gekritzelt
verschlüsselt zerfitzelt
Buchstaben-Salat mit
Riesen-Bedeutung
erstunken und erlogen
häßliche Wahrheiten
sauber getippt

: Das bin ich?!

ca. 1995-2002