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GASTAUTOREN  


Dr. Jürgen Schwalm

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Textauswahl:

geb.1932, Autor und Arzt.
Auszug: Herausgeber des "Almanachs Deutschsprachiger Schriftsteller-Ärzte", zahlreiche Publikationen in Lyrik, Prosa und Sekundärliteratur, Mitglied mehrerer Literatur-Vereinigungen. Wohnt u. arbeitet in Lübeck.








Betrachtungen

Der Machthaber ist ein Billardspieler. Die Kugeln, die er dabei rollt, sind die Köpfe seiner Gefolgschaft, und er siegt, indem er sie in einem bestimmten Winkel aufeinander- und auseinanderprallen lässt. Diese Billardstrategie ist berechenbar und erlernbar, und am Ende kann der Machthaber immer behaupten: Es war alles nur ein Spiel und nie ein Ernstfall.

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Wenn die Schlagkraft des Verstandes verrostet, wird auch die Schlagkraft der Faust blockiert. Während der Verstand aber jeden Glauben an sich verliert, behält die Faust stets den Glauben an ihre besseren Argumente, auch wenn sie schließlich nur noch ins Leere schlägt.

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LUX AETERNA

Jeder spricht immer nur von der Katastrophe des Weltunterganges. Warum wird die Hölle dieser Ängste geschürt? Wenn der Prozess nun ganz schmerzlos vor sich ginge und auf eine Neugeburt hinausliefe?
Das Nichts ist nicht vorstellbar, wie, wenn es niemals war und nie sein wird, und das einzig Vorstellbare, das Licht, in welcher Gestalt auch immer, als Lux aeterna auch danach ewig weiterleuchtet?
Vielleicht ist die sogenannte Katastrophe des Weltunterganges nichts anderes als der Übergang in eine grenzenlose Klarheit.

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Schließlich enden alle Revoluzzer auch bei der friedlichen Heimarbeit. Erst wollen sie ihre Eltern an die Bäume knüpfen, später nur noch wollene Teppiche knüpfen.

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Jede Kunstleistung beginnt mit dem Wagnis, einen amorphen Raum nach einem Konstruktionsplan zu gestalten. Deshalb besteht zu Anfang des Schöpfungsprozesses das Risiko, ins Bodenlose zu stürzen, und später die Gefahr, sich in dem Koordinatennetz zu verfangen, das man auslegte, um sich vor dem Absturz zu bewahren.

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Es ist kein Wunder, dass der moderne Sprachgebrauch den Konjunktiv eliminiert. Denn die gnadenlose Grammatik des Lebens richtet die Welt nach dem Indikativ aus und erteilt Nackenschläge mit dem Imperativ.

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Im Karneval darf ein Narr alles sagen, was er denkt; doch ist es schade, dass die Wahrheiten, die er ausspricht, nur bis Aschermittwoch gelten.

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Fußnoten können zu Fußangeln werden. Manche verzappeln sich unten am Schluss der Seite so sehr im Gestrüpp der Fußnoten, dass sie überhaupt nicht mehr dazu kommen, die Hauptsätze zu lesen, die im Leben oben stehen.

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Es gibt zwar jeder Senf an sein Würstchen, aber jedes Würstchen gibt auch überall seinen Senf dazu.

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Dieses Affentheater um den richtigen Platz auf der Bühne des Lebens (möglichst ganz vorne im Rampenlicht). Dabei ist im Schauspiel eine gelungene Nebenrolle besser als eine vergeudete Hauptrolle.

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Rat an alle Poeten zwischen den Meeren: Werft nicht noch mehr Meer-Verse ins Verse-Meer. Das Mehr an Meer-Versen versinkt schon im Meer!

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Man erteilt der Kunst immer die Verpflichtung, moralisch wirken zu müssen. Das macht die Kunst doch ganz ohne Auftrag: Sie erzieht am meisten durch die Freiheiten, die sie sich erlaubt. Ihre schlechten Beispiele lehren das Gute.

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Man kann einen Brief mit so vielen prachtvollen Siegeln verschließen, dass er schließlich ganz und gar vergisst, was er eigentlich sagen wollte.

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Manche verstehen es, Formulierungen zu finden, durch die hehre Größen wieder auf ein normales Maß gestutzt werden: Als Rainer-Maria Rilke und Clara Westhoff ein Paar wurden, rief der Maler Otto Modersohn aus: "Schau, da kommt Clara mit ihrem Rilkchen unterm Arm!"

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Der Ausdruck "Renaissance" sollte eigentlich keiner speziellen Stilrichtung vorbehalten sein. Denn der Prozess der Renaissance ist der Kunst inhärent, sie muss sich durch Wiedergeburten laufend erneuern und zwar in jeder Zeit, wenn auch mit wechselnden Mitteln und zu unterschiedlichen Zielen; und jede Renaissance sollte eine Revolution werden.

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Jeder Autor muss kräftig streichen. Er sollte sich nur nicht im Übereifer ausstreichen.

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Wir beobachten nur selektiv. Deswegen werden alle unsere Erinnerungen tendenziös. Sie deuten unsere Stellung in der Welt ganz anders als unsere Umgebung. Jede Autobiographie wird deshalb mehr Dichtung als Wahrheit. Selbst wenn sie nicht in der Absicht verfasst wurde, die Leser zu täuschen, einer täuscht sich darin oft und verrät sich dadurch immer: der Autor selbst.

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Wie alle, die sich als Reformatoren berufen fühlen, war auch Martin Luther von Vorurteilen okkupiert und wurde mehr noch von seinem Aberglauben als von seinem Glauben aktiviert.
Er schimpfte auf den Gebrauch der Gabel, weil sie für ihn ein Attribut des Teufels war und hielt die Besen für Reittiere der Hexen.
Luther machte den großen Fehler, nicht gleich alle anderen Haushaltsgeräte mit zu verdammen: Es wären dann doch noch weit mehr frustrierte Hausfrauen evangelisch geworden.

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Vom Ende des vorigen Jahrhunderts an, mit der Verbesserung der sanitären Einrichtungen, wurde der Nachttopf mehr und mehr zu einem Geschirr der Kleinkinder und der Bettlägerigen degradiert.
Doch zuvor war die Produktion dieser Utensilien eine Herausforderung auch für das Kunstgewerbe: Durch erlesenes Dekor gerieten die pots de chambre sogar zu intimen Kostbarkeiten.
Sie dienten allerdings nicht nur der simplen organischen Erleichterung. In einer Zeit, in der man noch durchschlagende Abführmittel, sogenannte Drastica, gebrauchte, konnte der Nachttopf zusätzlich einem anderen drastischen Nebeneffekt dienen, nämlich dem der niedrigsten Diffamierung. Damals konnte man wirklich noch seinen Feind bescheißen. Man brauchte nur das Porträt seines Feindes auf den Boden des Nachttopfes malen zu lassen und dann die eigenen Exkremente...
Sie glauben mir nicht? Aber derartige Geschirre wurden längst in Museen inventarisiert. In den Lübecker Sammlungen sind zwei Nachttöpfe deponiert, die den damaligen Erzfeind Napoleon an der entscheidenden Stelle zeigen, und auf dem einen pot de chambre wurde er außerdem noch karikiert! Wie viele Nachttöpfe dieser Art dürften zur Zeit der Okkupation unter den Betten gestanden haben! Sie ermöglichten es den braven machtlosen Bürgern, sich ganz gefahrlos im intimen Bereich von ihrem drückenden Hass über dem Mächtigen zu befreien.