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Claus Schwarz

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Textauswahl:

Jahrgang 1951,
geboren in Frankfurt am Main. Nach Schulabschluss (Abitur) und beendetem Häuserkampf im Fankfurter Westend an Joschka F.s Seite ;-) die konservative Familie durch abonnieren der Peking-Rundschau geschockt, Studium und Ausbildung zum Marketing- und Werbefachmann dortselbst. Danach fast drei Jahrzehnte internationaler Berufstätigkeit als leitender (oder leidender, wie man's nimmt) Mitarbeiter. Lebt seit 2001 im schönen Ostfriesland, schreibt vorzugsweise Satirisches, Gedichte und Kriminologisches.

eMail: c-e-schwarz@t-online.de






Soll ich Du wählen?

Sie kommt näher, die Europa-Wahl. Am Sonntag ist es so weit und ich weiss nicht, was ich machen soll. Hingehen und wählen, das wäre ja meine vornehmste Bürgerpflicht. Oder soll ich mich verweigern, nicht wählen?

Aber Halt - habe ich denn überaupt eine Wahl?

Dankenswerter Weise machen sich die deutschen Pensionisten-Vereine, pardon, Volksparteien, die Mühe, den ratlosen Wähler zu informieren. Ach du meine Güte, wenn ich mir das anschaue. Allenthalben bekomme ich halbe Sätze um die Ohren gehauen, die überzeugend und griffig sein sollen. Satz-Rudimente auf dem Niveau der achtziger Jahre Margarine Werbung. Lautklapperei, welche die Not unserer so genannten Spitzen-Politiker kaschieren soll. Ich, der Wähler, bin meinen Politikern nicht mal mehr einen kompletten, vernünftigen Satz wert! Womöglich noch einen mit Aussage. So dass ich nachher nicht sagen kann, ich hätte es ja vor der Wahl nicht gewusst.

Da drängt sich ein schlimmer Verdacht auf: wer an Worten spart, könnte nichts zu sagen haben. Oder - im Umkehrschluss sei Gustav Heinemann zitiert: wer etwas bewegen will muss bereit sein Anstoß zu erregen. Aber das riskiert natürlich keiner von denen, deren einziges politisches Programm da heisst: ich will gewählt werden, wähl mich doch bittebitte - alles weitere braucht Dich doch nicht zu interessieren, wir regeln das schon für Dich.

Sie lächelt mich geradezu verführerisch an, diese blonde Germanenlady auf den Wahlplakaten der FDP, auf die Pünktchen sei verzichtet, die reissen es nun auch nicht mehr raus. Frau Dr. Silvana Koch-Mehrin, mit einer Doktorarbeit über "Die Münz-Union von 1867 bis 1927" zu akademischen Ehren gekommen. Und neben ihrem Konterfei prangt der Satz: "Wir können Europa besser!"

Ja was denn? Besser verwalten? Besser Bürokratisieren? Besser zum Teufel reiten? Besser machen für Unternehmer, in dem wir soziale Fragen und andere Kleinigkeiten unter den Teppich kehren? Besser verstehen, wenn wir endlich wieder aus unserem Profiltief heraus gekommen sind? Besser nutzen um endlich mal vernünftige Wahlkandidaten zu finden? Was denn nun bitte, Silvana?

Auf einem anderen Plakat kündigst Du an, dass Du Europa auf Vorderfrau bringst. Das ist aber lustig. Ich bin nämlich zufällig ein Mann, habe mit meiner eigenen widerspenstigen Gattin genug zu tun und ausserdem, gib acht, Guido - ich meine den Westerwelle, nicht Guido Horn, den Hasselnussecken-Poeten - also der Westerwelle wird ganz schnell fies, wenn Du anfängst, auch seinen Laden auf Vorderfrau zu bringen.

Wie gut, dass ich durch Zufall Silvana kürzlich in einer Talkshow erleben durfte. Da hat sie gesagt, dass der politische Ruf als Spitzenkandidatin für die Europawahl für sie überraschend und ihrer Meinung nach zu früh gekommen sei. Wie recht Du hast, Silvana. Und sie hat gesagt, dass sie zur FDP gegangen ist, weil sie das Gefühl hatte, dort redet man ihr am wenigstens rein. Auch recht, Silvana, die haben nämlich nix mehr zu sagen.

Ich frage mich wirklich, wie eine veritable Akademikerin es zulassen kann, dass ihr Konterfei in Großformat neben solch blödsinnigem Neusprech abgebildet werden kann. Und wer entscheidet eigentlich bei Euch über die Plakate, die gemacht werden? Ich vermute daran war auch Guido Westerwelle, der blau gelbe Großhirn-Liliputaner, nicht ganz unschuldig.

Einzelfall? Mitnichten. Ein paar Meter weiter wird mir der Ernst der Lage in unserem Land aber so richtig klar gemacht. Da prangt das Konterfei unserer Ostzonen-Liesel, das Bild von Angela, unserer Prinzessin Eisenherz. Ihre Mundwinkeln hängen so weit herunter, dass jeder Pekinese neidisch wird. Und da soll man Optimismus kriegen, in die Hände spucken und an den Wiederaufbau gehen? Du meine Güte, da gab es ja im Winter 46/47 auf den Trümmerbergen mehr zu lachen. Angela lässt verkünden:

Deutschland kann mehr!

Aha. Von der Grundaussage her sehr beruhigend, aber um was geht es denn, Angela? Deutschland kann mehr Soldaten in den Irak schicken? Deutschland kann mehr Solidarität mit den idiotischen Hegemonie-Fantasien eines amerikanischen Laienpredigers zeigen? Deutschland kann mehr für die unauffällige Verwaltung von schwarzen Parteikassen tun? Deutschland kann mehr Blockadeverhalten der Opposition aushalten? Deutschland kann mehr Ausländer nach Hause schicken? Ach Angela, erkläre das doch mal genauer, bitte. Ach so, ja, Dein anderes Plakat, das hätte ich fast vergessen. Das gefällt mir besser, weil Dein Bild nicht drauf ist. Und der Satz, den Du hast draufschreiben lassen ist richtig gut:

Gegen das rot-grüne Chaos.

Ist das Plakat noch von der lezten Bundestagswahl übrig geblieben? Oder habe ich irgendwie verpasst, dass Brüssel von Rot-Grün beherrscht wird? Zu denken gibt mir nur, dass als farblicher Hintergrund für diese Information ein stark ins bräunliche gehender Farbton ausgesucht worden ist.

Auf der anderen Strassenseite heisst es: Europa braucht Grün. Stimmt, ohne den Wald und das andere Grünzeugs ginge es uns ziemlich dreckig. Schon damals pflegte der Berliner Textilien-Händler seinen Kundinnen bei der Auswahl der Mantelfarbe zu raten: "Nehmense Jrün, det hebt...." Und wir bekommen versprochen, dass man sich für Nachhaltigkeit, Gerechtigeit und Selbstbestimmung einsetzen wird. Ganz prima, danke, das beruhigt mich. Ich hätte dann da noch die Frage, wie wir die paar anderen Kleinigkeiten in den Griff kriegen: Arbeitslosigkeit, Steuergerechtigkeit in Sachen Daimler Chrysler, Deutsche Bank, Vodafone und Co - ich selbst kann nämlich leider keinen Verlustvortrag geltend machen, obwohl es finanziell die letzten beiden Jahre beschissen gelaufen ist. Und dann wäre da noch der eine odere andere Punkt: Euro-Bürokratie und Selbstbedienungs-Mentalität unserer (sind das wirklich auch meine?) Abgeordneten zum Beispiel. Mir fällt bestimmt noch mehr ein.

Aber Ihr gebt ja schon selbst zu, dass ihr auch nicht weiter wisst. Sonst hättet Ihr nicht das schöne Plakat mit dem Foto von Daniel Cohn-Bendit produziert, der ewigen Einmann-Lichterkette aus Strassburg, immer im Einsatz für eine bessere Welt! Wirklich eine tolle Ideee, darüber zu drucken "Unser Eurofighter". Da weiss ich gleich Bescheid. Ich habe nämlich in der Zeitung gelesen, dass das Ding viel zu teuer ist und überhaupt nichts taugt. Ein Rohrkrepierer sozusagen.

Hallo, Herr Müntefering! Ich bin so fürchterlich erleichtert, seit dem ich Eure schönen Plakate gesehen habe. Ihr seid für Friede, Freude, Eierkuchen. Ich bin sicher, da seid Ihr nicht die Einzigen. Aber Gerhard, lass Dir sagen: wegducken bringt nix, das reitet Dich noch tiefer in die Kacke.

Ach, und unsere gute alte SPD. Gerhard, Gerhard, gib unsere sozialen Ideale wieder. Habt Ihr denn immer noch nicht gemerkt, dass der echte Bürger draussen auf der Strasse viel mutiger und veränderungsbereiter ist, als Eure tollen Berater Euch das immer erzählen? Mensch, wir wissen doch längst - das begreift sebst der grösste Pisa-Trottel - dass sich unsere sozialen Netze so nicht länger halten lassen.

Wie soll das denn in ein paar Jahren noch gehen, wenn erst mal die "double income-no kids" Generation das Patschhändchen aufmacht und Knete will aus dem Topf, in den sie nichts eingezahlt hat. Also hört doch mit dem Blödsinn auf, Netze mit immer grösseren Maschen zu machen. Macht kleine Netze und setzt sie da ein, wo wirklich Not ist. Im Neusprech heisst das Effizienz-Optimierung und wird auch von Beratern, die Ihr sonst teuer bezahlen müsst, empfohlen. Von mir gibt`s denn Tipp ganz umsonst! Ja, es ist völlig richtig, das Thema Sozialhilfe am Schopf zu packen. Aber sucht Euch dafür bitte auch die echten Sozialhilfe-Betrüger aus! Ich meine so Fälle wie Siemens, wo es gigantische Subventionen dafür gibt, dass man die Arbeit dann nach janz weit draussen verschiebt. Wo man keine Steuern bezahlen muss und Sozialabgaben schon gar nicht. Gerhard, Du siehst: es gibt viel zu tun, also pack`es auch an. Zusammen mit Martin, Deinem Spitzenkandidaten für Europa.

Tja, Silvana, Angela, Daniel, Martin? Soll ich Du wählen?
Ich fürchte, diesmal nicht.

Claus Schwarz
12.06.2004






Aus "Toll-Collect" mach "Oll-Collect"
Oder: Wie es der Regierung Schröder gelang, die Arbeitslosigkeit
in nur sechs Monaten um mehr als die Hälfte zu reduzieren...


Glückwunsch, Herr Bundesminister Stolpe! Herzlichen Glückwunsch!
Zielstrebig, fest entschlossen und vor allem rasch handelnd haben Sie es geschafft den Vertrag mit der Toll-Collect Gruppe zu kündigen. Mir fällt ein Stein vom Herzen! Darf ich mich nach dem Namen Ihres Beraters erkundigen?

Da stehen sie nun an unseren Autobahnen. Die Mautbrücken, jede voll gepfropft mit Hightech vom Feinsten! Zu Schrott mutiert, bevor sie auch nur ein einziges Mal richtig funktioniert haben. Jede Einzelne repräsentiert vermutlich den Wert eines kleinen Einfamilienhauses. Aber das macht ja nix, Herr Minister, war ja nicht Ihr Geld. Unseres auch nicht - die Dinger sind ja Gott sei Dank von der öffentlichen Hand bezahlt worden. Wo treffe ich die? Ich hätte auch Bedarf für etwas Sponsoring, und ich versichere Ihnen - dieses Geld kommt sofort wieder dem Wirtschaftskreislauf zu Gute, sorgt für die Erhaltung von Arbeitsplätzen.

Meine Güte, Herr Minister! TOLL - COLLECT!!! Der Name hätte doch schon vor Vertragsabschluss zu denken geben müssen! Ein Blick ins Lehrbuch der deutschen Sprache zeigt: TOLL steht auch für: wahnsinnig, verrückt! Und Collect? Wie konnten Sie nur übersehen, dass das eine Abkürzung ist:

"C"hronisch "O"bsolete "L"ächerlich "L"ügende "E"ffizienzlose "C"ash-eintreibungs "T"ölpel.

Gut, "Toll-Collect" ist auch nur ein weiteres Beispiel für die allseits herrschende Umbenennungsmanie, Pardon, das Re-Naming, mit der uns alter Wein in neuen Schläuchen schmackhaft gemacht werden soll. Aus dem Volkspark-Stadion wurde so die "AOL-Arena", ohne dass davon der HSV auch nur einen Deut besser spielte. Aus dem Berliner Bundestag machen wir jetzt flugs den "Talk-Palast" - hier kann es allerdings nur noch besser werden. Und der Vatikan wird in "John Pauls Adventure-Wonderland" umbenannt - Märchen werden in schlechten Zeiten ja schnell wieder populär.

Da ist es nur konsequent und logisch, dass mir heute ein Prospekt auf den Tisch flatterte, in dem mir ein obergeiler "Food-Processor" angeboten wurde. Ich habe nicht mal zehn Sekunden gebraucht um zu erkennen, daß das Ding in der Küche meiner Mutter noch Mixer hieß. Aber ich gebe zu: Potatoe-Slicing klingt viel professioneller als Kartoffeln reiben. Letzteres hat so einen dumpf-provinziellen Beigeschmack, igitt igitt. All die Marketingstrategen und Beratungsspezialisten kriegen ihre bescheidenen Honorare wirklich zu Recht: der alte Mist sieht in einer neuen Dose doch gleich so richtig scharf und trendy aus!

Aber, Herr Minister, zurück zu den tollen Mautbrücken. Den Denkmälern für deutsches Schildbürgertum und deutschen Technologiewahn par Excellence. Ich schlage vor, daß jede einzelne getauft und wird und einen Namen bekommt: wie wäre es, wenn wir die, die kurz vor Potsdam steht, in "Stolpe-Portal" umbenennen?

Das hat doch was. Handeln Sie schnell und kurzentschlossen, wie wir es von Ihnen kennen. Denken Sie daran, wie lähmend lange die Diskussion um das Holocaust-Mahnmal in Berlin dauerte!

Besinnen Sie sich doch endlich mal auf gute deutsche Tradition, Herr Minister! Jedes Scheitern birgt auch die Chance für einen glänzenden Neu-Start. Unglaubliche Optionen und Möglichkeiten liegen nun vor Ihnen! Sie könnten als derjenige in das große Buch deutscher Geschichte eingehen der Kanzler Schröder aus den tiefsten Nöten der grassierenden Arbeitslosigkeit in unserem Land befreit hat! Adenauer, Ehrhard und Brandt werden gegen Ihr leuchtendes Vorbild nur noch blasse Schatten sein, Herr Minister Stolpe!

Als erstes muss der Verein mal einen anständigen, leicht eingängigen Namen kriegen, der ordentlich nach "von Amts wegen" klingt. Besinnen Sie sich auf die echte deutsche Verwaltungs-Tradition und geben Sie dem Berufsbeamtentum eine Chance, Herr Minister! Vignetten - womöglich an jeder Tankstelle am Automaten zu ziehen? Wie banal. Und das könnte womöglich auch noch funktionieren! So geht es doch nicht - das ist doch undeutsch!

Wie wäre es statt dessen denn mit "Fernverkehrsschwerlastkraftwagen-Bundesautobahn-Benutzungsentgelt-Feststellungs-und- Beitreibungs-Behörde"? Das hat doch was Deutsches! Was Kerniges, Echtes. Und unsere europäischen Nachbarn kriegen nach all dem Gelächter gezeigt was eine Harke ist. Setzen Sie sofort eine Arbeitsgruppe von achtzig bis hundert Beamten ein und lassen Sie ein ordentliches Durchführungs-Bestimmungs-und Ausnahmen von der Regel-Paragrafen-Dickicht entwerfen.

Sie kriegen das hin, Herr Stolpe, ich bin sicher. Das Thema Flaschenpfand wird uns schon bald wie Kinkerlitzchen vorkommen. Und denken Sie dabei auch an all die armen Trottel in unseren Nachbarländern die das neu zu schaffende Regelwerk verstehen und übersetzen müssen! Ja, fordern sie deren Wissen mal richtig heraus. Frau Bulman wird es Ihnen nach der Pisa-Schlappe zu danken wissen!

Und dann endlich: Kampf der Arbeitslosigkeit! Jeder LKW-Fahrer bekommt ab sofort bei Auffahrt auf die Autobahn einen Arbeitslosen oder Rentner als Beifahrer zugeteilt. Jawohl, auch Rentner. Nix da mit nach Mallorca auswandern und unser kostbares Geld, das wir dringend für die nationale Zukunftssicherung brauchen, an spanische, dickbusige Kellnerinnen verprassen! Oder womöglich noch an junge Kellner mit Knackarsch!

Und überhaupt: das beste Bier gibt's sowieso hier in Deutschland! Es wird Zeit, daß dieser ganze Knoblauch-Olivenöl-Basilikum-Quatsch ein Ende nimmt. Rapsöl und Zichorie, das sind unsere wahrhaft nationalen Delikatessen! Deutsche, besinnt euch auf Großmutters leckere Kriegs-Küche! So genießt man in kargen Zeiten!

Der "Oll-Collect" Begleiter wird entsprechend geschult und dann ordentlich Buch führen über die Anzahl der für die Tour benutzten LKW-Achsen, gefahrene Kilometer, Art der Ladung, Tempo- und Lenkzeit-Überschreitungen und womöglich anfallenden abfälligen Bemerkungen des Fahrers über unser Land (diese können eventuell sofort per SMS an unseren Innenminister Schily gemeldet werden!!) Sofort nach Beendigung der Fahrt wird er die Formulare in sechsfacher Ausfertigung an die entsprechende Bearbeitungsstelle weitergeben. Herr Minister, vergessen Sie nicht ausreichend Stempel in Auftrag zu geben! Ich stelle mir Texte vor wie: "Vor dem Wegwerfen sind zwei Kopien anzufertigen". Damit auch alles schön einfach und klar ist und keine blöden Fragen von Seiten der Mautpflichtigen gestellt werden.

Nachdem die Erfassung der zu zahlenden Mautgebühren auf diese Weise verwaltungstechnisch perfekt, volkswirtschaftlich sinnvoll und vor allem arbeitsmarktwirksam geregelt ist braucht es nur noch ein paar läppische Computer um die Beträge zu erfassen, die Konten zu verwalten und die Gelder auf möglichst undurchsichtigem Wege in dunklen Verwaltungskosten-Kanälen verschwinden zu lassen.

Herr Minister Stolpe, ich habe zwar keine Ahnung von Computern und vom Programmieren schon gar nicht. Aber gerade deswegen bringe ich wohl die besten Voraussetzungen mit Leiter des noch zu gründenden Konsortiums für dieses Vorhaben zu werden. Ich würde mich mit einem fünfstelligen Monatsgehalt, angesiedelt in der oberen Hälfte des NvGföF - Tarifs (Nutzlos verschwendete Gehälter für öffentliche Führungskräfte) zufrieden geben. Natürlich brauche ich ein paar ordentliche Berater, als Dienstwagen schwebt mir irgend etwas in der vier bis fünf Liter Klasse vor. Hubraum natürlich, nicht etwa Verbrauch!

Meine Bewerbungsunterlagen füge ich diesem Schreiben bei, ggf. bin ich bereit, in irgendeinen politischen Club einzutreten wenn es denn nur unserem armen, geschundenen Land weiterhilft.





Der Eiersturz zu Ochtelbur

Ich weiß nicht wie Sie damit umgehen. Mir jedenfalls geht diese unendliche Nachrichtenflut fürchterlich auf den Keks und ich habe gar keine Lust mehr den Fernseher einzuschalten oder meinen Internet-Zugang zu aktivieren. Andauernd stürmen neue Nachrichten über mich ein. Nachrichten die mir klar machen, daß die Welt immer schlimmer wird. Nein - ich meine nicht die Nachrichten aus dem Irak, auch nicht die über den Zustand unserer Staatsfinanzen und unserer Sozialsysteme. Auch nicht die, die das Thema meiner womöglich einmal zu erwartenden Rente zum Inhalt haben oder die Benzinpreise.

Ich leide unter all dem Elend und der Not welche aus all den anderen Informationen über mich hereinstürzen: noch immer darf Charles seine Camilla nicht heiraten und wird auf geradezu skandalöse Weise zu außerehelichen Beziehungen gezwungen. Und das von einer echten, englischen Königin mit Krone! Ich erhalte die Nachricht, daß meine mit Mühe und Not begonnene Nudeldiät völlig falsch ist, ich werde darüber informiert, daß immer mehr Frauen fremd gehen und wie sie das anstellen. Ich werde darüber informiert, daß sich irgend so ein Lümmel von einem völlig talentfreien Blondchen getrennt hat und daß die nun unglücklich, ach was, untröstlich ist. Ich erfahre, was in fremden Schlafzimmern vor sich geht oder auch nicht und ich leide darunter. Ich erhalte Krankheitsbulletins von Menschen, die ich nicht mal kenne und die vermutlich auch keinen Wert darauf legen, mich kennen zu lernen. In diesen Zeiten erfährt man sekundenschnell, wenn Rumpelstilzchen gerülpst hat.

Nun könnte man meinen, die Welt gerate immer mehr ins Trudeln, die Zustände würden schlimmer und schlimmer. Intrigen, Verrat, wo immer man hinsieht. Aber ist das denn wirklich so?

Früher, daran kann ich mich noch gut erinnern, früher "gab" es Nachrichten. Dann, wenn zu Abend gegessen war, wenn der Tag so weit abgeschlossen war, dann gab es Nachrichten. Sendezeiten waren knapp, auch der Platz auf Titelseiten. Da musste eine Nachricht die diesen Namen verdiente auch schon wirklich eine echte, ausgewachsene Nachricht sein. Und ein Skandal musste schon ein Super-Schlamassel sein wenn er es denn bis in die Schlagzeilen oder sogar in die Nachrichten schaffen wollte. Daß unser guter, alter Franz-Josef, nicht der Kaiser, sondern der Strauss, in New York von ein paar leichten Mädchen um seine Geldbörse erleichtert wurde, das war so ein Schlamassel. Unser Franz-Josef! Und damals wurden die Nachrichten von Journalisten und Reportern übermittelt.

Heute ist das anders: Nachrichten werden heute "gemacht". Von, wenn ich den Medien glauben darf, den "Nachrichten-Machern"! Womit auch schon das Problem deutlich wird. Denn wo etwas "gemacht" wird ist in der Regel vorher nix gewesen, oder im besten Fall nicht viel. Aber Sendezeiten gibt's heute zu hauf, die Anzahl der steinalten Spielfilme, die man in einer Endlos-Schleife wiederholen kann ist auch begrenzt. Also werden Nachrichten gemacht, damit der Zuschauer merkt, wie entsetzlich wichtig Fernsehen ist und der gerade eingezappte Sender sowieso. Wer die aktuellsten und wichtigsten Nachrichten hat, macht Quote!

Also wird alles zur Nachricht. Wichtige Nachrichten erkennt man daran, daß dazu Menschen interviewt werden. Zeugen, die Nachrichtenmacher nennen das auf deutsch, glaube ich, Testimonials. Der Nachrichten-Zeuge muss überhaupt nicht am Geschehen teilgenommen oder gar Ahnung davon haben, Gott bewahre. Es reicht völlig aus, wenn er zum Zeitpunkt des Interviews von seiner eigenen Wichtigkeit überzeugt ist und das ebenso überzeugend rüber bringt.

Ganz besonders wichtige Nachrichten erkennt man daran, daß umgehend und sofort, wenn es sein muss auch mitten in dunkler Nacht, ein Reporter vor Ort geschickt wird und dann eine Life-Reportage gemacht wird. Wenn dieser Fall eintritt, erkennt auch der größte Pisa-Trottel, daß es sich um einen Vorfall wenigstens apokalyptischen Ausmaßes handelt. Und das hindert ihn daran, daß er womöglich umschaltet auf einen Dauer-Daddel-Kanal nach dem Motto "wie viele Dreiecke können Sie erkennen, jaaaa sogar! SIE können das und hier sind lauter Umschläge mit ganz viel Geld für Sie...." Nein, wenn so wichtige Reportagen kommen dann muss man zuschauen und das Mädel mit dem Geld mal warten lassen.

All die vielen Zuschauer stellen nun die nette hübsche Dame im Studio und ihren im Dustern herum tappenden Reporter vor ganz schön große Probleme, und eben hier zeigt sich wahre Meisterschaft der Journalistik. Es geht darum, daß beide natürlich überhaupt keine Ahnung haben, was eigentlich los ist - aber so lange und so detailliert wie möglich darüber berichten müssen, damit sich die Katastrophe dem Zuschauer so bildlich wie nur möglich vermitteln lässt. Zum Beispiel so:

Die nette mittelblonde und appetitlich hergerichtete (glaubt jedenfalls der Intendant) Dame räuspert sich, ihre Miene nimmt dem Anlass entsprechend einen ernsten Ausdruck an während die Kamera ein bisschen näher heran geht:
"Guten Abend, meine Damen und Herren! Ochtelbur - ein Name, den bis vor wenige Stunden kaum ein Mensch kannte. Ochtelbur im glücklichen stillen Ostfriesland. Einer Region, die von uns immer mit einem Lächeln bedacht wurde und die sich doch - angesichts der Bedrohungen südländischer Urlaubsziele durch internationalen Terrorismus - zu einer Art Cote d'Azur des Nordens entwickelt hat. Eine Gegend, die wir gemeinhin mit glücklichen Kühen und saftigen Weiden, Deichen und verregneten Spaziergängen im Friesennerz verbunden haben. Kurzum, eines der letzten, echten Idylle. Und doch - seit ein paar Stunden ist alles anders, wieder einmal bewahrheitet sich, daß Schrecken und Unheil überall sind und uns aus heiterem Himmel ereilen können. Es sollte ein gemütlicher Abend im Hause der Familie P. werden. Doch dann geschah das Unfassbare: ein Hühnerei rollte von der Arbeitsplatte in der Küche und fiel zu Boden. Unser Reporter Oliver Kleinschmitt-Zackendübel ist vor Ort und informiert Sie, verehrte Zuschauer, über die aktuellen Ereignisse am Unfallort. Oliver - können Sie mich hören? Was geht im Moment dort vor sich?"

Im Bild taucht Oliver Kleinschmitt-Zackendübel auf, bleiches, leicht übernächtigtes Gesicht, Trenchcoat, er hat sichtlich Mühe, das Mikrofon ruhig zu halten. Im Hintergrund rot-weißes Absperrband, flackernde Blaulichter, Maschinenlärm, Kommandorufe: kurzum alles, was zu einem Soundtrack für eine kernige Katastrophe gehört.
"Barbara? Barbara?" Er klopft ein paar Mal auf das Mikrofon, ein kurzes Lächeln huscht über sein Gesicht. "Ja, Barbara, jetzt kann ich Sie hören. Also, das Unglück geschah kurz vor 19 Uhr 30, aber was genau passiert ist und wie es passieren konnte, darüber gibt es im Moment noch keine Informationen. Die Unfallstelle ist weiträumig abgesperrt. Auch wir dürfen nicht direkt an den Ort des schrecklichen Geschehens. Unseren Informationen zu Folge sollte dort im Hause der Familie P. ein Omelett zubereitet werden, es könnte aber auch Rührei auf dem Speiseplan gestanden haben. Dann - urplötzlich und ohne jede Vorwarnung - soll das Ei in Bewegung geraten und auf den Boden gestürzt sein. Aber Genaueres werden wir erst in einer für kurz nach Mitternacht angekündigten Presse-Konferenz erfahren!"

"Nun soll es sich ja um ein Ei gehandelt haben? Weiß man darüber schon Näheres?"

"Nein, Barbara. Daß es sich um ein Hühnerei gehandelt hat ist inzwischen so gut wie sicher. Aber ob es ein Käfighennen-Ei war, ein Bio Ei oder eins aus Freilandhaltung, darüber liegen uns noch keinerlei Erkenntnisse vor!"

"Oliver, wie groß ist denn nun das Ausmaß des Schadens? Und vor allem - sind Personen zu Schaden gekommen und wie schwer sind diese verletzt, können Sie uns dazu etwas sagen?"

"Nein, Barbara, darüber wissen wir im Moment nichts Genaues. Zunächst gab es die Information, daß die schnelle Annäherung an den Unfallort nicht möglich war weil ein unkontrollierbares, wildes Tier dort herum lief. Es soll sich dabei um den Rehpinscher der Familie gehandelt haben der das Ei einfach vom Boden auflecken wollte. Allerdings konnte das wohl in letzter Minute durch zwei beherzte Polizeibeamte verhindert werden, die das Tier mit einer durch den Briefkastenschlitz geschwenkten Bockwurst von der Absturzstelle weg locken konnten. Nach den wenigen Informationen, die wir bisher haben, wurde das Tier dann durch ein eigens per Hubschrauber eingeflogenes Team der GSG 9 vorläufig erschossen. Damit konnte verhindert werden, daß der Hund womöglich kontaminiertes Rohei aufnahm. Nach Ansicht der Experten vor Ort war das notwendig, da es ja bisher keine Informationen über Art und Qualität des verunglückten Ei's gibt."

"Oliver, das sind ja schreckliche Ereignisse - nimmt Sie das denn nicht persönlich und vor allem auch die ganzen Helfer direkt vor Ort fürchterlich mit?"

"Barbara - ganz sicher. Es ist bei weitem das Schrecklichste, was ich bisher life erleben musste. Gott sei Dank sind inzwischen auch psychologisch geschulte Helfer und Seelsorger vor Ort die sich um uns kümmern. Andererseits, Barbara, sind dies alles ja noch ungesicherte Informationen. Es ist zum Beispiel eine andere Version hier im Umlauf. Demnach handelt es sich bei dem Tier nicht um einen Rehpinscher, sondern um den Bernhardiner der Familie, und er wurde nicht vorläufig erschossen sondern die freiwillige Feuerwehr konnte ihn mit Hilfe einer Seilwinde durch den unten in der Haustüre befindlichen Briefschlitz bergen. Aber wie gesagt - noch sind all das nur Gerüchte und bruchstückhafte erste Informationen, mehr dazu erfahren wir heute Abend in der Presse-Konferenz!"

"Oliver, noch einmal die Frage nach Verletzten?"

"Barbara, dazu kann man im Moment noch nichts genaues sagen. Es wurde von zwei Einsatzhelfern berichtet, daß es gelang, die Familienmitglieder mitsamt Oma und Opa aus der ebenerdigen Wohnküche zu bergen. Ein Feuerwehrmann berichtet uns, daß dazu Drehleitern und Sprungtücher eingesetzt wurden. Aber auch das sind nur erste Informationen. Man muss dazu wissen, daß sich die Wohnküche auf der anderen uns im Moment abgewandten Seite des Gebäudes befindet. Das Technische Hilfswerk hat wohl die Terrassentüre mit schweren Gerät aufgehebelt und dann den Bewohnern mit einer Leiter auf die Fensterbank geholfen, so daß diese dann schlussendlich in die Sprungtücher springen konnten. Sicher kann ich sagen, daß sich einer der freiwilligen Helfer schwer am Daumen verletzt hat, als er sich beim Öffnen der Türe mit einem Hammer darauf schlug. Aber ich bin sicher, daß wir noch heute Nacht auch erste ärztliche Bulletins bekommen werden. Bitte - Barbara, auch dies ist noch eine erste und völlig ungesicherte Information, Sie sehen ja, was hier los ist!"

Im Bild taucht ein stämmiger Mann mit leicht zerfleddertem kariertem Flanellhemd, Cordjeans und Gummistiefeln auf. Seine spärlichen Haare sind durcheinander, wieder und wieder fährt er sich mit der Hand über den Kopf.

"Barbara, wir sollten vielleicht mal diesen Mann hier fragen, das ist nämlich Herr Enno Kampenblööker, der Nachbar. Herr Kampenblööker, Sie haben das ja alles aus nächster Nähe mitbekommen, war das denn nicht furchtbar für Sie?"

"Furchtbar? Neee, also das könnt' ich nu nich' sagen. Ich war ja auch gerade hinten im Stall bei den Rindern, als das woll passiert is'. Ich hab's rattern gehört und dachte, die Melkmaschine läuft schon wieder trocken, aber dann hab' ich gemerkt, dass das so'n Flugdingsbums war. Da bin ich rauf zu Edda, das is meine Frau, aber die hat gesagt, lass' man Enno, bei Katrin Paulsen is wohl bloß mal wieder ein Hühnerei vom Tresen gefallen!"

"Hat es denn solche Katastrophen schon früher gegeben? Ich meine, mit Eiern und so?" Oliver Kleinschmitt-Zackendübel schaut im Moment etwas verwirrt und versucht, mit der anderen Hand Zeichen zu geben.

"Katastrophen? Na ja, also, ich sach mal: so'n Ei is ja rund, und wenn man da halt mal nich' so richtig achtpasst, ja dann fällt das schon mal runter..."

Zwei Männerarme erscheinen im Bild und ziehen Herrn Kampenblööker zur Seite, als dieser gerade beginnen will, schöne Grüße an seine Verwandten in der sächsischen Schweiz zu übermitteln. Er taucht noch einmal kurz auf und winkt, dann ist er verschwunden. Im Bild ist wieder die nette, adrette Dame aus dem Studio:
"Oliver, ich denke, Sie werden dort noch eine Weile aushalten müssen um uns auf dem laufenden zu halten. Wann wird denn Ihrer Meinung nach damit begonnen werden, das abgestürzte Ei zu bergen?"

"Barbara, nur ganz schnell: Natürlich habe ich diese Frage auch ganz kurz an den verantwortlichen Einsatz-Koordinator gestellt. Zum jetzigen Zeitpunkt kann man dazu noch nichts Gesichertes sagen. Aber nach dem ersten Eindruck den die Spezialisten des Katastrophenteams hier gewonnen haben, wird es wohl nötig sein, das gesamte Haus um die Absturzstelle herum Stück für Stück abzutragen bis man unter Einsatz von schwerem Räumgerät an das Ei selbst heran kommt. Wie lange das dauert, kann kein Mensch sagen und sicher wird man auch erst noch die Experten der Umweltschutz-Gruppe hören müssen bevor es zu einer endgültigen Entscheidung kommt!"

"Vielen Dank und viel Glück, Oliver Kleinschmitt-Zackendübel, wir drücken Ihnen die Daumen!"

"Vielen Dank, Barbara, ich gebe jetzt wieder zurück zu Ihnen ins Studio!"

"Soweit, meine Damen und Herren, unsere direkte Live-Berichterstattung vom Katastrophenort. Aus aktuellem Anlass haben wir unser Programm geändert! Direkt im Anschluss an die Nachrichten sehen Sie einen Brennpunkt zu diesem Thema mit dem Titel: Das Ei - tödliche Bedrohung aus dem Hühnerhintern! Nun zu den anderen Nachrichten des Tages..."