Heimlichkeiten
Das Moor liegt trügerisch ruhig in der sternenklaren Nacht. Der volle Mond bedeckt Birkenbäume, Binsen und Heidekraut mit seinem bleichen Licht. Hier und da wispert es aus den Tiefen der Gräser, huscht ein Tier über den morastigen Boden, aufgeschreckt durch Schritte, die sich langsam nähern.
Der einsame Wanderer kennt sich hier aus. Er geht mit einer schweren Last auf Rücken und Schultern über das bei jedem Schritt nachgebende Sumpfmoos. Steigt über abgebrochene Birkenäste. Zerreißt die silbrigen Fäden der Spinnweben, die fast unsichtbar über den Weg gespannt sind. Vor einem kleinen See bleibt er stehen, lässt das Bündel ins Wasser gleiten. Luftblasen steigen auf, werden kleiner, dann liegt der See wieder ruhig und still da.
Der ungleichmäßige Schritt des Wanderers entfernt sich und die eigentümliche Stille voll Wispern, Rascheln und Knacken legt sich wieder über das Moor.
Maren biegt mit ihrem VW Golf in den kleinen Feldweg und lässt ihn langsam auf einem Seitenstreifen ausrollen. Sie ist nervös. Warum will er sich gerade hier an diesem einsamen Ort mit ihr treffen? Das muss ein Ende haben, denkt sie. Ich kann diese Heimlichtuerei nicht mehr ertragen.
Heute werde ich mich das letzte Mal mit ihm treffen. Unwiderruflich das letzte Mal.
Der herrliche Frühlingstag scheint alle Kraft verloren zu haben. Der Himmel ist verhangen und durch die Wolkendecke schimmert die Abendsonne, wie durch einen dichten Vorhang.
Langsam und in Gedanken geht sie auf den kleinen Mischwald zu. Das Blätterdach der hohen Eichen, Birken und Buchen verdeckt den Blick auf den Himmel. Zuunterst sind die Stämme mit Moos bedeckt, als trügen sie Socken aus grünem Samt.
Sie zieht die Strickjacke enger um ihren Körper. Es ist kühl hier. Eine unwirkliche Stille herrscht. Nur das Knacken morscher Äste ist hin und wieder zu hören. Langsam geht sie weiter. Ein Geruch von Moder und Verwesung weht vom Moor herüber.
"Du darfst niemandem von unserer Beziehung erzählen", hatte er ihr eindringlich gesagt. "Noch nicht." Maren hatte es versprochen. Immer wieder. Schließlich stand viel für ihn auf dem Spiel. Er war verheiratet und seine Frau hatte die Möglichkeit, ihn finanziell zu ruinieren.
Unerwartet lichtet sich der Mischwald. Der Boden wird weich und sumpfig. Beim Gehen sacken ihre Slipper in das hellgrüne Sternenmoos wie in einen dicken, nassen Teppich und verursachen schmatzende Geräusche.
Maren bleibt stehen. Vor ihr liegt ein kleiner See. Das Gerippe eines Ruderbootes modert am Ufer vor sich hin.
Ihr Herz schlägt schneller, als sie vom Wald her eine Gestalt auf sich zukommen sieht.
Er ist es! Sie erkennt ihn an seinem ungleichmäßigen Gang. Zwei Schritte schnell, dann drei Schritte langsam. Charakteristisch für ihn. Maren nimmt sich vor, hart zu bleiben. Er muss sich entscheiden. Heute.
Etwas surrt um ihren Kopf. Ihre abwehrende Hand trifft den harten Körper einer Libelle. Angewidert zuckt sie zurück und steht unerwartet mit einem Bein bis zum Knöchel im Wasser. Darunter gibt der Boden leicht nach. Was ist das? Ein schmales Goldkettchen, blass im schwindenden Dämmerlicht. Ein Armband mit kleinen Anhängern.
Sie bückt sich, taucht die rechte Hand ins Wasser, als ihr Herz plötzlich für ein paar Schläge aussetzt. Das war ... doch ...
Blitzschnell zieht sie ihre Finger zurück und springt auf. Sie hat einen Arm und eine Hand ertastet.
Vor Schreck am ganzen Körper zitternd, fällt ihr plötzlich ein, dass in den letzten Wochen in der Zeitung immer wieder über vermisste junge Frauen berichtet worden war. Verschwanden sie hier?
Sie rennt los, stolpert, fällt, rafft sich wieder auf. Ihr rechter Schuh bleibt im Morast stecken. Es ist ihr egal. Nur weg von hier. Hastig streift sie auch den zweiten Schuh ab und rennt auf Strümpfen ihrem Freund entgegen. "Reiner! Da ... eine ..."
Schon steht er vor ihr, nimmt sie in den Arm. Weinend legt Maren ihren Kopf an seine Schulter. Ihre Hände klammern sich an seinen Parka.
"Es ist ja gut. Alles wird gut", beruhigt er sie. Er drückt, wie um sie zu trösten, ihr Gesicht leicht an seinen Oberkörper.
Maren kann nicht sehen, wie Reiner langsam in seine Tasche greift. Als er die Hand herausnimmt, blitzt kurz ein dünner Draht zwischen seinen Fingern auf.
Wie hypnotisiert starrt er auf ihren Nacken.
"Keine Angst ... Du brauchst keine Angst mehr zu haben."
Das Labyrinth
"Das kannst du doch nicht machen!"
"Klar, kann ich das machen." Nico füllte seelenruhig den Billigrotwein aus der Tetra-Packung erst durch den Kaffeefilter und dann in die kostbar geschliffenen Karaffen.
In der Küche roch es stark nach Alkohol.
"Und du glaubst, die merken das nicht? Bordeaux schmeckt doch ganz anders."
"Was verstehst du schon davon? Nichts. Es wird niemand dahinter kommen. Verlass dich drauf."
Cora knallte das Glas auf den Tisch.
"Was ist los?", fragte Nico.
"Was los ist! Wieso nimmst du mich eigentlich nie ernst? Du schmeißt das Geld mit vollen Händen heraus aber jetzt bist du so geizig und willst deine Freunde mit diesem Billigwein betrügen."
"Das ist doch ein prima Gag, ich weiß gar nicht, was du schon wieder hast. Deine kleinbürgerliche Art ist zum Kotzen."
Cora nahm ein Trockentuch und begann wütend die Gläser zu polieren. "Musst du mich immer so behandeln? Bei jeder anderen Frau benimmst du dich wie ein Gockel. Wenn du mit mir sprichst, fallen dir nur Beleidigungen ein."
Nico atmete tief ein und aus. Er nahm das nächste Paket, schnitt mit der Schere die Ecke ab und füllte den Wein in die Karaffe.
Cora biss sich auf die Lippen. 'Manchmal könnte ich ihn umbringen', dachte sie wütend. Es hatte auch keinen Sinn mit ihm zu diskutieren. Er würde sich weiter stur stellen.
Sie verscheuchte die Gedanken und ging noch einmal den Ablauf der Veranstaltung durch. Er würde ihr nie verzeihen, wenn der Abend durch ihre Schuld ein Flop werden würde. Denn schließlich sollte nicht nur Beate, die in letzter Zeit durch ihre lebensgroßen Puppen überregional bekannt wurde, sondern vor allen Dingen er, seine neuesten Bilder zeigen und verkaufen.
Das Labyrinth, bestehend aus 2500 Berberitzen, war das Ergebnis einer eintägigen Performance. Sowohl der Beuys-Schüler Frank Habermann als auch die Heimatmalerin Grete Unkorn hatten es schon als Kulisse für ihre Werke benutzt. Heute waren dort die Kunstwerke von Beate und Nico verteilt.
Cora benutzte das Geschirrtuch immer häufiger um sich den Schweiß von der Stirn zu wischen, während Nico mit dem Auffüllen der Gefäße inzwischen fertig war.
Er führte vorsichtig den Stöpsel auf die letzte Karaffe.
"Ich bringe sie jetzt erst mal in den Keller. Da ist es schön kühl. Sonst können wir nachher Glühwein trinken", grinste er, als habe das Streitgespräch nie stattgefunden.
In diesem Augenblick hörten beide den unverwechselbaren Ton eines Porsche-Motors. Alf war mit seiner Frau eingetroffen.
"Ich verzieh mich in den Keller. Kann diesen blöden Lackaffen einfach nicht ausstehen. Dieser Leinwandkleckser."
Er nahm ein Tablett mit Karaffen und verschwand durch die Tür. Cora legte das Geschirrtuch zur Seite ging hinaus um die Beiden zu begrüßen. Alf war so groß, dass Cora sich immer wunderte, wie er ohne Schwierigkeiten in seinen Porsche steigen konnte. Seine Frau wirkte neben ihm eher klein und zart. Neidvoll musste sie zugeben, dass Tamara nirgendwo ein Gramm Fett zuviel hatte. Dafür aber reichlich Rouge im Gesicht. Sie arbeitete als freie Kulturjournalistin in Leer.
Alf küsste Cora links und rechts auf die Wange. Der Geruch nach "Joop" wehte um ihre Nase, während Tamara ihr kühl die Hand reichte und einen direkten Blickkontakt vermied.
"Wir sind mal wieder die Ersten", sagte Alf und wirkte dabei recht zufrieden.
Cora führte die beiden in das Wohnzimmer. "Dann haben wir wenigstens Zeit, ein wenig zu plaudern, bevor der Rummel losgeht. Wo ist Nico? Streichelt er gerade seine Bilder und überlässt dir mal wieder die ganze Arbeit?"
"Er kommt sofort." Cora ging zur Stereoanlage und legte eine CD von Cantara ein. Nur leise drangen die Töne durch den Raum. In diesem Augenblick kam Nico zurück, übersah Alf geflissentlich, hauchte einen Handkuss auf Tamaras Hand und sah ihr dabei tief, und wie Cora eifersüchtig feststellte, verliebt in die Augen. "Na, wenn das nicht ein gutes Omen ist. Mein Engel der Inspiration."
Er legte seinen Arm um ihre Schultern und meinte: "Hilfst du mir, die Laternen im Labyrinth zu verteilen. Die roten, kennzeichnen den Weg zum Forum und die gelben führen wieder zum Ausgang. Wir wollen doch nicht, dass sich jemand verirrt." Als Tamara nickte, führte er sie, noch immer den Arm um ihre Schulter gelegt hinaus.
Cora hätte am liebsten geweint, besann sich aber auf ihre Gastgeberpflicht und sah Alf fragend an. "Möchtest du Rotwein? Oder lieber etwas anderes?" Alf schien mit den Gedanken völlig woanders zu sein. Er stierte auf die terracottafarbene Wand, an der Nico die Degen, Säbel und einen Dolch seines Vaters angebracht hatte.
"Gib mir einen Bordeaux. Hab Lust, mich zu besaufen. Tamara kann den Wagen ja zurückfahren."
In diesem Augenblick hörte man das Knirschen des Kiesweges und das Motorengeräusch mehrerer Fahrzeuge. Die nächsten Gäste waren eingetrudelt.
Sie verteilte den Rotwein und tatsächlich schien niemand den eher minderwertigen Geschmack zu merken. Der große Wohnraum war rasch vernebelt von dem Rauch der Zigaretten. Stimmen und Gelächter dröhnten in Coras Ohren.
Es sah aus wie eingetrocknetes Blut. Neben dem Dolchgriff, der zwischen den Schulterblättern steckte, lief es in kleinen Rinnsalen den Rücken hinunter.
Fast wäre Cora über ihn gestolpert und vor Schreck hatte sie laut aufgeschrieen.
"Ein besseres Kompliment für meine Arbeit kannst du mir nicht machen", lachte Beate amüsiert. Sie trug einen lilafarbenen Hut, der über und über mit rosa Blüten besetzt war. Das Kleid wiederholte in quadratischen Mustern beide Farben.
Als Cora mit den Fingerkuppen über die Schultern der Puppe strich, fühlte sie, dass selbst das Blut aus künstlichem Material war.
Erleichtert atmete sie auf.
"Puh, deine Figuren können einem ja einen ganz schönen Schreck einjagen."
Einige Besucher der Ausstellung drängten sich an den beiden vorbei und blickten scheu auf den am Boden liegenden Körper.
Cora hatte sich inzwischen halbwegs von ihrem Schreck erholt. "Was ist das für ein Material? Deine Puppen sehen so ..., na ja, halt wie Menschen aus."
"Ja, was glaubst du wie viel Mühe und Arbeit hinter einer Figur steckt. Gerade die Kleinigkeiten brauchen sehr viel Zeit. Ich bin sehr pingelig, achte auf jedes Detail. Die Nase und die Hände sind das Allerschwerste. Zum Schluss wird der fertige Körper mit Latex gewickelt oder besprüht."
"Wie man sieht, war das eine gute Idee. Bin gespannt auf deine anderen Puppen. Ich hoffe, du hast nicht noch mehr so makabre Dinge auf Lager."
"Nein, schau da vorne, die Dame im Abendkleid, war mein erstes Exemplar. Sieht sie nicht wundervoll aus?"
Eine zierliche, rothaarige Frau in einer hautengen, schwarzen Robe stand dort. Ihr Gesicht war mit zahlreichen Sommersprossen übersät und die blauen Augen sahen den Besucher lockend an. Der schmale Mund war leicht geöffnet. Die linke Hand lag leicht auf der Hüfte. Zwischen den Fingern ihrer rechten Hand, steckte eine Zigarette, als warte sie darauf, dass jemand ihr Feuer reichen würde.
Cora war hingerissen und konnte sich nicht satt sehen, an den vielen liebevollen Details.
Sie gingen weiter die Berberitzenhecken entlang, deren Früchte in der Abendsonne blutrot leuchteten. In dem sattgrünen Gehölz ergaben sie zusammen mit den leicht überhängenden rötlichbraunen Trieben eine wundervolle Farbkomposition.
Am Ende des Ganges gelangten sie zu einem Platz mit Holzbühne, dem Forum. Nico stand mit Tamara vor seinen ausgestellten Bildern. Sie unterhielten sich angeregt. Alf stand mit beiden Händen in den Hosentaschen und gekrauster Stirn daneben.
Da Beate von einem Interessenten in Anspruch genommen wurde, gesellte sich Cora zu Nico.
"Die Ausstellung verspricht ein Erfolg zu werden, wir haben schon über hundert Besucher", sagte sie. Alf sah sie aus zusammengekniffenen Augen an. "Ich habe noch nie gesehen, dass dein Mann etwas verkauft hat." Er drehte sich halb zu Nico: "Wie machst du das eigentlich? Du lebst auf großem Fuß, hast italienische Designerschuhe und ein Seidenhemd von Gucci an. Du bist doch nicht der Einbrecherkönig, der in ganz Leer gesucht wird?"
Verärgert sah Tamara ihren Mann an. "Alf!"
"Was ist?"
"Verschon unsere Freunde mit deinen spitzen Bemerkungen."
Alf zog seine Augenbrauen hoch, sah sich suchend um und meinte ironisch: "Freunde? Ich sehe keine Freunde." Nico lachte nur. "Lasst gut sein. Schaut Euch lieber meine neueste Zeichnung an." Er zog ein Bild aus seiner Mappe und hielt es grinsend hoch. "Was haltet ihr davon?"
Er hielt eine Bleistiftzeichnung hoch und Cora sah, wie Alf einen kurzen
Blick darauf warf, in Zeitlupentempo seine Hand aus der Hosentasche zog, lässig eine Mücke von seinem blütenweißen Hemd schnippte und sich dann abrupt umdrehte.
Cora trat einen Schritt vor, um das Bild besser sehen zu können. Hörbar zog sie die Luft ein, als sie sah, dass dort Nico und Tamara in eindeutiger Stellung gezeichnet waren. Tränen schossen Cora in die Augen und ohne auf die Besucher zu achten, rannte sie ins Haus.
Eine weitere Demütigung. Warum, um Himmels Willen, brachte sie es nicht fertig, endlich einen Schlussstrich zu ziehen und zu gehen. Mit zitternden Knien ging sie ins Bad des Einfamilienhauses und ließ langsam das kalte Wasser über Arme und Gesicht laufen. Dann ging sie hinaus und kümmerte sich weiter um die Gäste.
Die Ausstellung war ein voller Erfolg. Als der letzte Besucher gegangen war, begann Cora die Gänge abzulaufen, um Papierschnitzel und Zigarettenkippen aufzusammeln.
Beate hatte ihre Puppen vor einer halben Stunde in den anliegenden Schuppen wetterfest abgestellt und war als Letzte gegangen. In der Tasche, Aufträge von Banken und Kaufhäusern. Nico hatte mit Glück ein Bild verkauft.
Es dämmerte bereits, und die roten Laternen, die den Weg zum Mittelpunkt des Irrgartens kennzeichneten, tauchten die Hecken in ein geheimnisvolles Licht. Sie hatte Nico seit dieser Szene im Labyrinth nicht mehr gesehen. Sie war froh darüber. In diesen Augenblicken hasste sie ihn.
Er war ein Egozentriker, nahm keine Rücksicht auf die Gefühle anderer, das hatte er vorhin mal wieder in Höchstform unter Beweis gestellt.
Alf hatte sich eine Stunde später von ihr verabschiedet. Tamara hatte sie nur ins Auto steigen sehen.
Cora bog um die nächste Ecke und sah auf dem Boden die Puppe liegen, die sie zu Anfang der Ausstellung so sehr erschreckt hatte. Komisch, dass Beate sie vergessen hatte. Sie trat näher, um sie aufzuheben, als sie ruckartig stehen blieb. Das war nicht die Puppe! Das war Nico! In seinen Schulterblättern steckte ein Dolch und daneben war Blut aus der Wunde getreten. Über seinem Kopf lag die Arbeitsmappe und einige Zeichnungen lagen verstreut herum. An den starren Augen erkannte sie, dass jede Hilfe zu spät kam.
Cora würgte und glaubte sekundenlang ohnmächtig zu werden. Unfähig einen klaren Gedanken zu fassen, bückte sie sich und sammelte die Entwürfe ein.
Als letztes hob sie die Bleistiftzeichnung von Tamara hoch und in ihrem Schockzustand wollte sie es gerade zerreißen, als sie stutzte. Was hatte er denn da auf der Rückseite gemalt? Cora betrachtete es genauer. Das war ja die Mini-Abbildung des Labyrinths. Jedem Gang hatte er den Namen eines prominenten Künstlers gegeben nur der vorletzte Weg hinter dem Forum hatte noch keinen. Stattdessen war ein schwarzes Kreuz eingetragen, als kennzeichne es ein Grab.
Verstört fuhr sich Cora durch das Haar. Warum hatte er das gemacht. War das eine Mitteilung an Tamara? Hatte er dort vielleicht etwas für sie deponiert? Oder hatte dieses Kreuz gar keine Bedeutung? Cora ging in die Knie, stützte sich mit der Hand ab und setzte sich schließlich auf den weichen mit Moos und Gras bewachsenen Boden. Ihr war übel. Was sollte sie nur machen? Da lag er nun. Tot. Sie konnte auf einmal nicht mehr daran denken, wie sehr er sie immer gegängelt hatte. Plötzlich war da nur seine liebgewonnene Gestalt. Um ihn her, seine verrückten Zeichnungen. Unter ihnen auch diejenige, die er so stolz präsentiert hatte. Tamara. Die hatte jetzt auch nichts mehr von ihm.
Lange Zeit saß sie neben der Leiche und grübelte. Ihre Gedankengänge hatten Ähnlichkeit mit den Wegen des Irrgartens, in dem sie gerade saß. Doch nach und nach formte sich eine Idee immer stärker heraus. Hastig stand sie auf und eilte zu dem vorletzten, namenlosen Gang. Sorgfältig betrachtete sie den Lageplan, maß den Weg mit Schritten ab, kroch über den Boden, tastete, drückte und strich über das Gras. Sie wollte gerade aufgeben, als sie, ganz nahe der Hecke, unter den Fingern etwas Hartes spürte.
Aufgeregt legte sie mit ihren Händen einen Hebel frei. Sie schluckte und hielt inne. Was zum Teufel war das? Wenn sie jetzt den Griff bewegte, würde sie dann etwas Schreckliches entdecken? Mit zitternden Händen zog sie den Hebel hoch. Es gab einen leichten Ruck und der Boden hob sich. Verwundert sah sie, dass hier ein Stück der Hecke in einem großen, braunen Übertopf eingepflanzt war. Mit aller Kraft hob sie ihn hoch. In dem so entstandenem Loch, lag eine Plastiktüte. Sie stellte den Topf mit der Hecke zur Seite und nahm den Beutel heraus, der eine schwarze Lederschachtel enthielt. Ihre Gedanken überschlugen sich. Wieso hatte Nico so etwas versteckt? Die Plastiktüte fiel ins Gras, und mit angehaltenem Atem öffnete sie den Lederbehälter.
Mehrere Bündel Geld lagen darin. Wenn die Banderolen stimmten, mussten es Hundert Tausendmark sein. Ihre Zähne gruben sich in die Unterlippe, und leichter Schweiß trat auf ihre Stirn. Sie schob die Scheine von einer Seite zur anderen und entdeckte darunter etliche Halsketten, Ringe und Armbänder. Kraftlos ließ sie sich auf den Boden sinken, die Schachtel fest umklammert. Was war das für Geld, was waren das für Schmuckstücke. Hatte Alf mit seinem Scherz ins Schwarze getroffen?
Sie dachte an die verschiedenen Zeitungsartikel des letzten Jahres: Einbruchserie hält die Leeraner Polizei in Trab - Juwelier ausgeraubt.
Es gab keinen Zweifel mehr für sie. Nico musste hinter diesen Diebstählen stecken. Hier in seinem Labyrinth hatte er seine Beute vergraben und konnte so, auch ohne viele Bilder zu verkaufen, leben.
Hatte er diese Einbrüche alleine durchgezogen oder hatte er einen Partner, der sich betrogen fühlte und ihn deshalb umbrachte. Cora wurde plötzlich ganz ruhig und starrte auf die Schachtel. War dies nicht ihre Chance? War es nicht möglich, das Geld und den Schmuck zu behalten, wenn sie ...
Entschlossen stand sie auf, nahm ein Bündel der Scheine und steckte sie in ihre Hosentasche, legte die Schachtel zurück in das Versteck. Dann wuchtete sie den Übertopf mit der Hecke wieder an ihren alten Platz und betätigte den Hebel. Alles sah aus wie immer. Ein geniales Versteck, das jetzt nur noch sie kannte.
Ohne Eile lief sie zum Haus, vorbei an Nicos Leiche, betrat das Wohnzimmer und nahm den Telefonhörer.
"Ich möchte einen Mord melden", sagte sie. "Im Labyrinth."
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